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40 Millionen Flüchtlinge oder mehr?

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Der A.-W.-R.-Kongreß stand im Zeichen der wissenschaftlichen Komplexität der Weltflüchtlingsprobleme. Dazu gehört allein schon die Erforschung der Zahl der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen. Bisher schätzte man die Zahl der Flüchtlinge und Vertriebenen seit Beginn von Hitlers Zwangsumsiedlungsaktionen — sie begannen 1939 mit dem „Abkommen“ mit Mussolini über die Südtiroler und Kanaltaler Umsiedlung

— auf mindestens 40, höchstens 50 Millionen Menschen, eine erschreckend große Zahl. Die relativ größte Zahl stellen dabei die rund 12 Millionen deutschsprachigen Heimatvertriebenen und Zwangsumsiedler dar, die entweder noch von Hitler aus ihrer Heimat vertrieben wurden (Deutschbalten, Südtiroler, Kanaltaler, Bessarabiendeutsohe, Wolhyniendeutsche), oder die — das ist der weitaus größere Teil — nach dem Potsdamer Abkommen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße- Linie und aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden. Auch die Jugo slawiendeutschen gehören hierher, doch erreichten viele von ihnen nicht mehr die neue Heimat, da sie in Jugoslawien einem Genocid sondergleichen unterworfen wurden, mit welchem die Aussiedlung der Ostdeutschen und der Sudetendeutschen nicht annähernd mit derselben Zielstrebigkeit unterworfen wurden. Zu den Hekatombenopfern Hitlers gehören natürlich auch die Juden. Der größere Teil von ihnen hätte die Flucht dem Tode vorgezogen, wenn nicht eben Hitlers Politik in diesem Falle das physical genocid dem cultural genocid den Vorrang gegeben hätte.

Wie gesagt: man schätzt die Zahl der Flüchtlinge, Zwangsumsiedler und Heimatvertriebenen von 1939 bis 1959, also über zwanzig Jahre hin, auf mindestens 40, höchstens 50 Millionen Menschen. Die Differenz ist groß, aber durch Dunkelziffern aller Art bedingt. So weiß man wohl, daß Hunderttausende Wolgadeutsche irgendwohin (zumeist Kasachstan) zwangumgesie-

einer halben Million und einer ganzen Million zu. Hilfe kann aber, soweit in diesen wirtschaftlich sehr schlecht stehenden Gebieten (nur die Elfenbeinküste macht eine wohltuende Ausnahme) überhaupt möglich, nur nach Klärung sowohl der Zahl der Flüchtlinge wie ihres rechtlichen Status wirksam gebracht werden. Die OAU (Organisation for African Unity) bemüht sich zwar um eine Art afrikanischer Flüchtlingskonvention, doch sind die bisher vorliegenden Entwürfe nicht ermutigend.

Asylrecht auf neuen Wegen

Sehr intensiv befaßte sich der Feldkirchner A.-W.-R.-Kongreß in seinem von dem ständigen „Furche“- Mitarbeiter und Völkerrechtler Doktor Theodor Veit er, Feldkirch, geleiteten Internationalen Expertenkomitee „Rechtsfragen“ mit den heute besonders wichtigen Asylrechtsproblemen. Schon der Festvortrag von Bundesminister a. D. Univ.-Prof. Dr. Ernst Kolb, Bregenz- Innsbruck, am Eröffnungstag war diesem Problem gewidmet, wobei Dr. Kolb in fein geschliffener Diktion aufzeigte, was Asyl isj, woher es von altersher kommt und wie sich in Österreich heute die Asylrechtsprobleme darstellen. Staatssekretär Dr. Karl Gruber, Sekti onsdhef Doktor Liehr und der in Wien lebende Schweizer Dr. Roland Seeger vom UN-Hochkommissär gaben interessante Aufschlüsse über die der zeitigen Bemühungen in Österreich, das Asylrecht als Grundrecht verfassungsgesetzlich zu verankern (bisher haben wir in Österreich nur die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, in Kraft getreten in Österreich 1955, die da nicht zureichend ist). Dr. Veiter hielt ein Referat über „Asylrecht und bundesstaatliche Verfassung“, was wegen der bundesstaatlichen Struktur Österreichs von besonderer Wichtigkeit ist. Dr. Rothholz, Vizepräsident der A. W. R., von der norwegischen A.-W.-R.-Sektion referierte über norwegisches, Dr. Emsheimer von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe in Zürich in der Diskussion über schweizerisches Asylrecht, die amerikanischen Kongreßteilnehmer berichteten über die Frage, wie sie in den USA gelöst ist oder sich seit der Kubaflüchtlingsbotschaft Präsident Johnsons von 1965 neu stellt, endlich hielt vor dem Plenum der Präsident der A. W. R., Dr. Henri- Bruno Coursier, Paris, der als Con- seiller Juridique des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in Genf ein versierter Fachmann ist, ein Referat über das Internationale Rote Kreuz und die Flüchtlinge.

Natürlich sollte man zuerst auch wissen, was ein Flüchtling überhaupt ist, ehe man ihm Asyl gewährt. Daß ein Ostagent, der in Österreich eingeschleust wird, ebensowenig als Flüchtling Asyl genießen kann wie ein Krimineller, liegt auf der Hand. Ist aber zum

Beispiel der Begriff des Wirtschaftsflüchtlings klar Umrissen?

59 Leitsätze

Unter Leitung von Prof. Doktor Fernando Pedroni der Universität Rom arbeitete das Expertenkomitee „Statistik“ der A. W. R. Vorschläge für die Erfassung der Flüchtlinge, sogenannter „nationaler“ (gleich- sprachiger) sowohl wie „internationaler“ (fremdsprachiger mit anderer Volkszugehörigkeit als jener der Mehrheit des Zufluchtslandes) aus, lie als Kriterium bei der Welt- i/olkszählung 1971 dienen sollen. Wird dies angenommen, hätte man erstmals wenigstens in der freien Welt auch eine verläßliche Flüchtlingsstatistik.

Am 20. September fand in Feldkirch auch eine gesonderte Arbeitstagung der Völkerrechtler der A. W. R. und des deutschen „Bundes der Vertriebenen“ mit Referaten des Rektors der Universität Münster, Prof. Dr. Friedrich Klein, von Dr. Heinz Kloss, Marbung/La'hn, und des Ordinarius für Völkerrecht an der Universität Saloniki, Professor Dr. Dimitrio S. Constanto- poules, über „Selbstbestimmungsrecht und Vertreibungsverbot“ statt. 59 Leitsätze („Feldkircher Leitsätze zum Selbstbestimimingsrecht der Völker“) wurden hierbei verkündet. Sie stellen das Ergebnis einer dreijährigen wissenschaftlichen Arbeit einer internationalen Völkerrechtlergruppe dar.

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