Grenzzaun - © Foto: Pixabay

"I can't remember" - eine späte Erinnerung

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Mit dem Kindertransport wurden Franz und Anna Wahle 1939 aus Wien nach London und vor den Nazis in Sicherheit gebracht. Sie wurde Ordensfrau (2001), er Priester. Im Gespräch erinnert sich Father Francis, wie seine Familie NS-Zeit und Krieg überlebte.

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Mit dem Kindertransport wurden Franz und Anna Wahle 1939 aus Wien nach London und vor den Nazis in Sicherheit gebracht. Sie wurde Ordensfrau (2001), er Priester. Im Gespräch erinnert sich Father Francis, wie seine Familie NS-Zeit und Krieg überlebte.

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In der weitläufigen alten Londoner Wohnung, wo der gebürtige Wiener Francis Wahle lebt, ist vom Großstadtlärm, der unten an einem der großen Verkehrsknotenpunkte Londons, der U-Bahn-Station Baker Street, den ganzen Tag über herrscht, nichts zu hören. Das Appartement, dessen Fenster auf die vielbefahrene Marylebone Road gehen, hat Francis Wahle von einer Cousine geerbt, die mit einem Anwalt einer amerikanischen Filmfirma verheiratet war.

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Außer der Verwandtschaft verband sie beide auch die Flucht aus dem von den Nazis besetzten Wien nach England. Seit dieser Zeit lebt Father Francis Wahle, mittlerweile als katholischer Geistlicher im Ruhestand, in London. Es ist bald 80 Jahre her, dass der damals noch nicht zehnjährige Franz Wahle und seine um zweieinhalb Jahre jüngere Schwester Anna am 10. Jänner 1939 ihr Kinderzimmer in der Wiener Wohnung an der Ecke Rudolfsplatz/Gonzagagasse verließen und von ihren jüdischstämmigen Eltern zum Westbahnhof gebracht wurden (wobei die Eltern nicht einmal bis zum Zug mitgehen durften), um mit einem der Kindertransport-Züge aus Österreich nach England zu flüchten.

Wie viele jüdische Eltern sahen sich auch Karl und Hedwig Wahle, die aufgrund ihrer Abstammung als Volljuden eingestuft waren, wenn auch schon längst assimiliert und der Vater außerdem schon vor dem Ersten Weltkrieg getauft und dann zur Katholischen Kirche konvertiert, spätestens nach den Pogromen vom November 1938 dazu gezwungen, wenigstens ihre Kinder in Sicherheit zu bringen. Mit dieser einzigen größeren Rettungsaktion vor der NS-Diktatur zwischen Dezember 1938 und dem Kriegsausbruch 1939 konnten im deutschsprachigen Raum insgesamt rund 10.000 jüdische Kinder von ihren Eltern in Sicherheit gebracht werden - sehr viele freilich um den Preis, dass sie einander nie mehr sahen. Die zur Rettung bestimmten Kinder waren sich der dramatischen Ereignisse oft gar nicht bewusst, für viele stand die aufregende Reise im Vordergrund.

Kampf ums Überleben

Die Kinder Franz und Anna Wahle wurden nach ihrer Ankunft im Jänner 1939 in London am Bahnhof Liverpool Street von den Familien, die durch jüdische und katholische Organisationen oder die Quäker ausgewählt worden waren, in Empfang genommen. Francis Wahle kam über das Catholic Comittee in ein Kinder-und Jugend-Heim nach Sussex, später dann nach Nordengland und in eine Jesuitenschule, seine Schwester wurde in einem Kloster in Essex aufgenommen. Die Geschwister hielten die ganze Zeit über Kontakt und sahen einander auch bei Gelegenheit, so etwa bei einer aus Polen geflüchteten Verwandten der Mutter in London.

Vater Karl Wahle war als Richter am Handelsgericht Wien nach dem Anschluss 1938 gleich zwangspensioniert worden, wollte aber "als Staatsbeamter sein Land nicht verlassen", während die Mutter Hedwig Wahle als Mathematikerin in einer großen Versicherung noch einige Zeit ihren Beruf ausüben durfte. Spätestens mit den Novemberpogromen begann aber für beide Eltern die Zeit der Verfolgung. Diverse Bemühungen um eine Ausreise führten zu keinem Erfolg. Die Eltern konnten zwar noch zwei Jahre in ihrer Wohnung bleiben, mussten aber bald jüdische Zwangsuntermieter aufnehmen und lebten seit Februar 1941, als die Abtransporte der Wiener Juden nach Polen begannen, in permanenter Lebensgefahr. Sie wussten zwar von den Deportationen, glaubten damals aber, dass die Juden in Polen nur in Gettos gebracht werden sollten. Anfang Mai 1942 kam dann die Gestapo zur "Aushebung" aller Juden ihres Hauses. Die Eltern Wahle, durch den Hausmeister davon verständigt, verließen ihre Wohnung und gingen todesmutig durch den Kordon ihrer Verfolger hindurch, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Seitdem lebten sie als "U-Boote" ohne feste Unterkunft, ohne Papiere und ohne Lebensmittelkarten.

Ein täglicher Kampf ums Überleben begann. Nach kurzzeitigen Unterkünften bei Verwandten und Bekannten konnten die Eltern schließlich bei fremden Leuten - wo man natürlich sicherer war -zwei Absteigquartiere (eines sogar bei einer fanatischen Parteigenossin!) auftreiben, in die sie mit einer eigens dafür ausgedachten Geschichte (sie seien ein Liebespaar, das nicht verraten werden dürfe) zweimal wöchentlich umsiedelten, freilich ohne polizeiliche Anmeldung, unter anderen Namen und mit falschen Ausweisen. Neben der treuen Freundschaft und der Courage vor allem der langjährigen Hausgehilfin und anderer Bekannter, die sie immer wieder mit Lebensmitteln oder Möglichkeiten zur Übernachtung über diese Zeit retteten, konnten die Wahles dabei teilweise sogar selbst für ihren Unterhalt sorgen.

Die Gestapo war ihnen jedenfalls öfters schon auf der Spur, und selbst als die Wahles bei einer Hausdurchsuchung einmal verhaftet wurden, hatten sie mit ihrer falschen Identität noch einmal unglaubliches Glück: Jener Mann, dessen Namen Karl Wahle aufgrund der Ähnlichkeit ahnungslos angenommen hatte, ein prominenter Sozialist, war damals gleichzeitig in einem anderen Polizeigefängnis, was aber nicht aufflog. War man angesichts der Razzien und zunehmenden Anhaltungen auf der Straße schon erleichtert, bei Fliegeralarm im allgemeinen Chaos in die Luftschutzkeller flüchten zu können, wurde Karl Wahle im April 1945 im Bombenbeschuss fast noch von Granaten getroffen, aber nur leicht verletzt. So schaffte es das Ehepaar Wahle, im Untergrund tatsächlich zu überleben. Gleich nach der Befreiung von Teilen Wiens trat Karl Wahle noch am 13. April seinen Dienst im Justizpalast an und wurde kurz darauf mit der Leitung des Handelsgerichtes betraut.

Wiedersehen mit Hindernissen

Mit ihren Eltern hatten die Kinder während dieser ganzen Zeit seit ihrer Abreise aus Wien zunächst noch über die Rot-Kreuz-Briefe (die aber nur 25 Worte enthalten durften) Kontakt, nach deren Untertauchen war es damit aber natürlich vorbei. Mit der Ungewissheit über das Schicksal der Eltern mussten die Geschwister bis zum Kriegsende leben, bis sie endlich von einer auch nach England emigrierten Verwandten und über eine Rotkreuz-Nachricht von den Eltern selbst erfuhren, dass sie am Leben seien.

In dieser Hochstimmung wurden bald die ersten ausführlicheren Briefe hin-und hergeschickt, in denen man einander erzählen konnte, wie es einem all die Jahre ergangen war. Nahm schon das sehnsüchtig erwartete gegenseitige Übermitteln von Fotos ("I can't remember what you are like from the front", wie Anna auf Englisch schrieb) einige Zeit in Anspruch, da die Eltern nicht einmal mehr alte Bilder hatten, dauerte es sogar noch bis Ende 1947, bis die Kinder ihre eigens nach London gekommene Mutter erstmals wiedersahen. Die ganze Familie war erst wieder im Sommer 1948 vereint, als sie gemeinsam ihre Ferien in der Steiermark verbrachten und dann nach Wien fuhren. Dabei war nicht nur das Hindernis der Sprache zu überwinden -die Kinder konnten nur mehr wenig Deutsch -sondern auch die emotionale Entfremdung von den in den Kriegs-und Verfolgungsjahren sichtlich gealterten Eltern.

Beraterin von Kardinal König

Da die allgemeine Lage im Nachkriegs-Wien nicht gut war, blieben Franz und Anna Wahle für das Studium bzw. zum Abschluss der Schule jedenfalls in England. Während der ältere Bruder nach seinem Wirtschaftsstudium in London in einem Großkaufhaus in der Buchhaltung tätig war, übersiedelte seine Schwester 1950 zum Studium der Mathematik nach Wien und lebte über vier Jahre wieder bei den Eltern. Außerdem begann sie eine theologische Ausbildung, da sie sich schon zuvor in England entschieden hatte, in ein Kloster einzutreten, was sie dann in Wien beim Schwesternorden "Notre Dame de Sion" auch tat. Sie wurde mit der Zeit in Wiener Kirchenkreisen eine bekannte Persönlichkeit und war aufgrund ihres Werdegangs prädestiniert, Kardinal König im offiziellen christlich-jüdischen Dialog zu beraten. Erst spät ging sie doch wieder nach London zurück, wo sie schließlich im Jahr 2001 starb. Die Mutter war schon 1957 gestorben, Vater Karl Wahle, der es bis zum Präsidenten des Obersten Gerichtshofes brachte und bis zuletzt ein weithin bekannter und äußerst gefragter Jurist war, lebte bis 1970.

Auch Francis Wahle, inzwischen englischer Staatsbürger geworden, ging schließlich mit 30 Jahren seinem langgehegten Wunsch, Priester zu werden -"wahrscheinlich auch aus Dankbarkeit für die Rettung der Familie" - nach und studierte ab 1959 zur Konzilszeit in Rom. Nach seiner Weihe in Rocca di Papa bei Rom hatte er mit Vater und Schwester sogar eine Audienz bei Papst Paul VI., der Karl Wahle ausdrücklich dafür dankte, "dass Sie Ihre beiden Kinder der Kirche geschenkt haben". Lange Jahre an der Westminster-Kathedrale und dann in verschiedenen Londoner Pfarren tätig, ist Father Francis bis heute als Geistlicher in London aktiv.

Die ausführliche Schilderung der Flucht der Kinder aus Wien und das Überleben ihrer Eltern in der Kriegszeit in Wien sind im Österreichischen Nationalfonds dokumentiert, auf dessen Einladung Francis Wahle erst vor einigen Jahren in Wien erstmals davon erzählte. Während sich in Wien bis auf ein vor Kurzem eingerichtetes kleines Museum im dritten Bezirk sonst kaum Zeugnisse der historischen Rettungsaktion des Kindertransportes finden, sind viele der Briefe der 1938/39 nach England geschickten Kinder, wie auch jene der Wahle-Kinder, in der "Wiener Library" am Londoner Russell Square aufbewahrt. Bis heute gibt es von der Jewish Refugee Association AJR in London organisierte regelmäßige Treffen ehemaliger Kindertransport-Kinder und auch einen Newsletter, in dem die damaligen Kinder ihre Erinnerungen oder aktuelle Nachrichten austauschen können.

Der Autor ist Jurist im öffentlichen Dienst.

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