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Moskau und die katholische Welt

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Von allen sowjetrussischen Rätseln der jüngsten Tage ist kein Geschehnis von sowenig Schleiern verhüllt, wie die Haftentlassung der neun Aerztc, die unter der Beschuldigung eines mörderischen Komplotts gegen hohe sowjetische Würdenträger Anwärter auf den Galgen waren. Klipp und klar vcrlautbartc das Innenministerium, daß die Nachprüfung des dokumentarischen Materials in dem AerztcpröZcß ergeben habe, daß die Zeugenaussagen der Verhafteten, die angeblich die gegen sie erhobenen Beschuldigungen bestätigten, von Angehörigen der Untersuchungsabteilung des früheren Staatssicherheitsministeriums „durch Anwendung unerlaubter Untersuchungsmethoden, die vom sowjetischen Gesetz streng verboten sind, erlangt worden waren“. Deshalb wurden die Neun in Freiheit gesetzt.

Ausgezeichnet. Ein sehr nüchterner logischer Zusammenhang. Die Feststellung des Moskauer Innenministeriums hat übrigens nicht den Reiz der Neuheit. Längst ist aus den großen politischen Schauprozessen, die in der Sowjetunion und unter der Assistenz von Fachleuten aus dem Moskauer Staatssicherheitsministerium in den Satellitenstaaten über die Bühne rollten, die Technik der Aus-sagenvcrfälschung bekannt, jenes infernalische System, durch physische Erschöpfung und Anwendung chemischer Mittel die Angeklagten zu willenlosen Automaten der Anklageführung zu machen. Noch vor dem Mind-szenty-Prozeß beginnend, aber in diesem wie nie zuvor offenbar werdend, zieht sich durch das Gerichtswesen hinter dem Eisernen Vorhang eine breite btutbesprengte Spur justizmörderischer Rechtsverfälschungen. Wo sie gegen katholische Bischöfe und Priester gerichtet wurden, dort waren sie nicht nur darauf berechnet, mit den ungeheuerlichen Anschuldigungen das einzelne Opfer vernichtend zu treffen, sondern die gegen die katholische Kirche geführte Verfolgung mit einem Schein von Legitimität zu umgeben. Dieser Art von Propaganda mit gefälschten Aussagen sind während der letzten sechs Jahre zwei Kardinäle, 27 Erzbischöfe, 81 Bischöfe, 19 apostolische Präfckten, sechs apostolische Administratoren und sechs Generalvikare zum Opfer gefallen, als Vertriebene, Deportierte, gefoltert, hingerichtet, ermordet. Allein in den ehemaligen baltischen Staaten sind 32 Bischöfe und Erzbischöfe, unter ihnen Mgr. Ciepliak von Mohilew, Skokireckas von Kaunas, Reinys von Wiln und der apostolische Administrator von Estland der Deportation und dem Tode im Exil verfallen. Wo öffentliche Prozesse gegen Bischöfe geführt worden sind, haben sie überall dasselbe Gesicht. Genau wie im Mindszenty-Prozeß verläuft der bulgarische Hochverratsprozeß gegen den Bischof von Nikopölis, Eugen Bosilkow, der im Oktober mit drei seiner priesterlichen Schicksalsgenossen zum Tode verurteilt und erschossen wurde, und ebenso der große Krakauer Priesterprozeß, den jüngst Erzbischof Gaw-lina, der frühere, nun in Verbannung lebende polnische Armeebischof, im Vatikansender schilderte. Immer dieselben Erscheinungen, immer die gleichen, zu Puppen gewordenen Menschen, auf die es nur eines leisen Druckes bedarf, um ein mechanisches Ja auf die schwersten Selbstbeschuldigungen zu erhalten. Immer dieselbe Täuschung, genau wie sie jetzt von dem Moskauer Innenministerium als Verfälschung durch Anwendung unerlaubter Untersuchungsmethoden gebrandniarkt wurde.

Durch jahrelange betrügerische Tricks ist in den Gerichtssälen der Mensch im kommunistischen Raum mit falschen Vorstellungen geäfft und sein Rechtswesen befleckt worden. Deshalb erweckt es die Genugtuung jedes Gerechtdenkenden, daß das Innenministerium der Sowjetregierung offen und rückhaltslos die dem sowjetischen Gesetze widersprechenden Praktiken in dem wahrhaft beispielhaften Verfahren gegen die neun jüdischen Aerztc verurteilt und die strafrechtliche Verfolgung der Urheber des betrügerischen Untersuchungsverfahrens eingeleitet hat. Solange nicht das Gegenteil erwiesen ist, wird man unwillig die schon hörbar gewordene Deutung zurückweisen, der Fall der jüdischen Acrzte im Kreml sei ein Sonderfall, bestimmt durch die Rücksicht, welche auch eine so antikapitalistische Großmacht, wie es nach seinen Grundsätzen der sowjetische Marxismus ist, auf die kapitalistische Großmacht der New-Yorker Börse und ihrer israelitischen Dollarmillionäre nehmen müsse.

Nun, da einmal mit höchster Autorität die Einbürgerung rcchtsverfälscherischer Methoden selbst in obersten Rängen des sowjetischen Justizwesens unter Anklage gestellt worden ist — und dies sogar, obwohl damit die Stalinsche Aera, man denke, die Aera des „großen Stalin“, mit schwerstem Vorwurf getroffen wurde — wird die Gutmachung nicht bei den neun israelitischen Aerzten stehenbleiben und auf sich warten lassen können. Vielleicht wird man doch finden, daß sechshundert Millionen Christen einen ähnlichen Anspruch wie die neun Aerzte des Kremls auf Schutz gegen Rechts-Verfälschung, auf Widerruf der „d u rch unerlaubte, vom sowjetischen Gesetz verbotene Unter-such.ungsmeth'oden“ hervorgerufene Anklagen und Verurteilungen und auf Gut-machung des 'geschehenen Unrechtesbesitzen. Und wenn schon die Ehre und das vergossene Blut der unschuldigen Opfer und das über sechshundert Millionen Christen ausgegossene Leid nichts gelten soll, so sollten doch auch mächtigste Diktaturen sich hüten vor dem Verdacht, mit dem Teufel „Kapitalismus“, den man täglich an die Wand malt, auf Kosten ihrer heiligsten Prinzipien Geschäfte zu machen.

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