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Ungarns arme reiche Offiziere

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In der „klassenlosen volksdemokratischen Gesellschaft“ Ungarns bildet das Offizierskorps die privilegierte Spitzenkaste. Es genießt große materielle Begünstigungen, vornehme gesellschaftliche Steilung und politische Chancen, die für eine westliche Armee unvorstellbar sind. An den Akademien wird der zukünftige junge Offizier im Geist der konservativsten Tradition erzogen. Räkoczis Kuruzen aus dem 18. Jahrhundert und Kossuths Honvėds, die 1848 gegen den Zaren und die Habsburger gekämpft haben, werden als ruhmreiche, nachahmungswür- dige Vorbilder apostrophiert. Die Heldengalerie bekommt einen internationalen, nebst dem national-traditionellen, Anstrich dadurch, daß auch die Mitglieder der internationalen Brigaden des spanischen Bürgerkriegs in die Ahnenreihe aufgenommen wurden. Die bunte Reihe wird mit den Offizieren der kurzlebigen Räterepublik von 1919 und mit den Truppenführem der Roten Armee bereichert.

Die feierliche Entlassung der jungen Offiziere erfolgt jeweils am 20. August, dem Taig des heiligen Stefan des ersten westlichen, christlichen Königs des Lande®, wobei das Wort „Heilige“ durch „Stephan I.“ ersetzt wird. Die Zeremonie fand dieses Jahr zum erstenmal öffentlich auf dem Kossuth-Flatz vor dem Parlament statt.

Hajrä! Hajrä! Hajrä!

Die Volksdemokratie ist stolz auf ihre uniformierten Zöglinge, und diese können ihre Uniformen ebenfalls stolz zeigen. In Gesellschaft erscheinen sie in Paradeuniformen, die hochgeschätzt sind. Die Offiziere müssen in der Öffentlichkeit immer diszipliniert, gepflegt, ja elegant als Musterknaben des Systems auftre- ten. Wehe dem, der Schande auf die Offizierskaste bringt! Von der Haarlänge bis zum Benirnm-dich-Knigge ist alles genauestens geregelt. Ein „Aus-der-Reiihe-Tamizen“ ist gefährlich. Ungebührliches, unhöfliches Benehmen jungen Damen gegenüber, geschmackloses Tanzen, überlautes Singen, auffallendes Benehmen ziehen schwere Disziplinarstrafen nach sich.

Die Offizierskaste ist materiell bevorzugt und den niedrigeren Gesellschaftsschichten gegenüber ausgesprochen reich. Vor etwa sechs Jahren hat das Offizierskorps offen seine Unzufriedenheit mit den Salären zum Aiisdruck gebracht. Besonders die Truppenärzte und die technischen Offiziere waren unzufrieden. Im Jahre 1964 wurde die Bezahlung neu geregelt. Seither wurde urnter anderem der „technische Ersatzlohn“ eingeführt, den nur Ingenieuroffiziere erhalten. Die Bezahlungen sind verhältnismäßig sehr hoch. Ein Oberstingenieur bekommt monatlich 4700 Forint Grundlohn (ein Facharbeiter 1500 bis 1700) und je nach seinen Dienstjahren einen Ersatzlohn, der jährlich zwischen 7000 und

18.000 Forint variieren kann und in zwei Raten ausbezahlt wird, am

1. Juli und vor Weihnachten. Außerdem erhalten die Offiziere einen Ein kaufsbon im Werte von 5000 Forint. Mit solchen Gutscheinen kann man nur in gewissen Geschäften, aber jede gewünschte Ware einkaufen. Offiziere zahlen keine Wohnungsmiete und können aus dem Westen importierte Automobile bevorzugt kaufen. Solche Offiziers-Pkws können nur mit Bewilligung des Verteidigungsminis teriumis Weiterverkauf werden.

Warum diese reichen Offiziere doch im Grunde airm sind? Grundsätzlich gibt es für sie keinen Paß und keine Ausreisebewilligung nach westlichen Ländern! Offiziere können auch in ein östliches, „befreundetes Land“ — der Wanschauer-Fakt-Bereich nicht ausgenommen — nur mit einer Sondergenehmigung des Verteidigungsministers fahren.

Die persönliche, ständige, lückenlose Überwachung jedes einzelnen Offiziers ist beispiellos. Nach Dienstschluß und Beendigung der vielseitigen Aufgaben müssen alle Offiziere beim Verlassen des Lagers, der Kaserne oder Werkstatt in das „Ab- gangsbuch“ genauestens einitragen, wo sie die freien Stunden verbringen wesden. Wenn sie das Programm inzwischen ändern wollen oder müssen, sind sie verpflichtet, die Änderung telephonisch bei der Dienststelle unverzüglich zu melden. Wenn sie ein Konzert, Theater oder Kino besuchen, müssen sie angeben, wo sie sitzen werden. Nach dem Heimgang, sei es noch so spät in der Nacht, müssen sie sofort melden, daß sie sich wieder in ihrer ständigen Wohnung auffiialten.

Im Offizierskorps herrscht Unruhe, seitdem bekannt wurde, daß nebst polnischen und ostdeutschen Fliegerformationen auch ungarische Luftwaffeneinheiten nach Sibirien verlegt worden sind. Im Rahmen der Warschauer Militärkoalition befinden sich ungarische Flieger neben Taschkent in voller Kriegsbereitschaft und Ausrüstung, um die „gemeinsame sozialistische Grenze“ gegen „fliegende gelbe Ameisen“ zu schützen. Sicherheitshalber sind die ungarischen Flieger von der spärlich besiedelten' asiatischen Außenwelt hermetisch isoliert und durch sowjetische Sicherheitstruppen umzingelt. Es herrscht Ausgangssperre. Beschränkte Bewegungsfreiheit ist nur in größeren Gruppen und unter sowjetischer Führung und Überwachung möglich. Diese Flieger wurden nach Asien abkommendiert, als die Umorganisierung der Luftstreitkräfte der Warschauer-Pakt-Mächte beendet war.

Durch osteuropäische „Gastflieger“ wurde erst bekannt, daß heute die äußere Mongolei ein riesiges Aufmarschgebiet und -militärisches Sam- mellager ist, wo fieberhaft zahlreiche neue Flugplätze erbaut und eingerichtet werden. Die Spitze der bereits aufmarschierten sowjetischen Panzerdivisionen zeigt eindeutig auf Peking!

„Mourir pour Danzig?“ pardon, für Taschkent, ist kein populärer Militärslogan unter den Sateliitenflie- gem, egal ob sie Kadärs, Gomulkas oder Ulbrichts Schildmütze an der chinesischen Grenze tragen.

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