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Hochempfindliche, gefährdete Pracht

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Bauwerke für die Ewigkeit gibt es sowieso nicht, aber die mittelalterlichen Dome sind nicht nur keine Bauwerke für die Ewigkeit, sondern, so seltsam das angesichts ihrer steinernen Massigkeit klingen mag, nicht einmal ganz pflegeleichte Bauten. Der oberste Teil des Hochturmes der Wiener Stephanskirche konnte nur mittels einer eingebauten geschmiedten Eisenstange in der gewünschten Schlankheit errichtet werden. Im 19. Jahr hundert, lang vor dem Zeitalter der Autoabgase, mußte ein erheblicher Teil des Turmes abgetragen und neu errichtet werden.

Aber die wohl heikelsten Teile der gotischen Kathedralen sind die Glasfenster. Als Teile der Außenfassaden sind sie in be sonderem Maße der Witterung ausgesetzt, und wenn man bedenkt, wie sehr die heutigen Schadstoffe, allen voran das Schwefeldioxid, dem Stein zusetzen, wird man sich kaum über die Botschaft wundern, daß sich der Zustand der mittelalterlichen Glasfenster, soweitsie noch an Ort und Stelle sind, gerade in den letzten Jahrzehnten dramatisch verschlechterte.

Auch deshalb (wenn auch nicht nur aus diesem Grund) ist die wissenschaftliche Erfassung der Glasfenster und ihres Zustandes eine Aufgabe von größter Wichtigkeit. Mit dem Band „Die mittelalterlichen Glasmalereien in Ulm” kam ein bereits vor über einem halben Jahrhundert begonnenes, großes kunsthistorisches Unternehmen in Deutschland dem glücklichen Abschluß einen Schritt näher: Der

„Corpus Vitrearum Medii Aevi -Deutschland” in über 50 dicken Bänden, wobei der vorliegende in der Gesamtsystematik als Teil 3 des ersten Bandes figuriert und die Aufnahme der schwäbischen Bestände abschließt.

Die Glasfenster bedurften ab ihrer Entstehung ständiger Pflege und laufender Reparaturen und wurden im Mittelalter ständig gepflegt und aus

gebessert. Mit dem Ausgang des Mittelalters begann ein schleichender Verfall, die Ursachen der schwersten Verluste waren aber politischer und geistesgeschichtlicher Art. Vor allem vier Einschnitte führten zu Verringerungen der Bestände: Der Bildersturm, der dreißigjährige Krieg, die Aufklärung und die Säkularisierung. In der Aufklärung wurden viele Fenster dem Bedürfnis nach lichterfüllten Räumen geopfert, in der Zeit der Säkularisierung wurden sie ganz einfach verkauft.

Nur 30 Jahre nach der Fertigstellung der Erstausstattung ließen Rat und Kramerzunft einen Teil der Chorfenster durch neue ersetzen. Im Juni 1531 „säuberten” die Bilderstürmer das Münster und vernichteten die meisten Altäre, darunter den Hochaltar, ließen aber die Chorfenster weitgehend unberührt. 1549 scheinen größere Reparaturen notwendig geworden zu sein, jedenfalls wurden die Glaser auf maßvolle Lohnforderungen vergattert.

Im 19. Jahrhundert wurde den Glasfenstern eine Welle romantischer Zuwendung zuteil - wie bekanntlich überhaupt dem Mittelalter. In den letzten Jahrzehnten nahmen die den Fenstern schadenden Umwelteinflüsse ein katastrophales Ausmaß an.

Entfernen kann man sie nicht. Die gotischen Dome und die Glasfenster bilden eine architektonische und künstlerische Einheit, die gesamte Konstruktion ist auf die Wirkung der farbigen Fenster hin konzipiert. Die einzige Möglichkeit, etwas gegen den Verfall zu unternehmen, ist, sie vor den atmosphärischen Einflüssen zu schützen. Sie werden daher mit Hilfe einer Stahlkonstruktion nach innen versetzt und die ursprüngliche Fensteröffnung wird mit einer Schutzver-glasung versehen. Ein aufwendiges, aber unumgängliches Verfahren.

Die Glasfenster des Ulmer Münsters sind nicht nur von herausragender Qualität. Es befinden sich auch nahezu alle der 450 noch vorhandenen, in weniger als hundert Jahren entstandenen mittelalterlichen Felder an ihrem ursprünglichen Platz, während in keiner anderen Kirche der Stadt auch nur Reste mittelalterlicher Verglasungen erhalten geblieben sind.

Dieser Umstand macht es etwa unmöglich, die Arbeiten im Münster in Beziehung zu anderen Ulmer Arbeiten zu setzen. Zusätzlich erschwert wird die Erforschung der mittelalterlichen Ulmer Glasmalerei dadurch, daß außerhalb der Stadt nur wenige Glasfenster Ulmer Künstlern zugeschrieben werden konnten.

Der Ulm-Band der im deutschen Verlag für Kunstwissenschaft erscheinenden Gesamtaufnahme ist (dies gilt freilich auch für die anderen) nicht nur für den engsten Fachkreis, sondern für jeden von hohem Interesse, der sich für die Kunst des Mittelalters im allgemeinen und die Kunst der mittelalterlichen Glasfenster im besonderen interessiert. Hier kann nur auf den einen oder anderen Teilaspekt eingegangen werden.

Einer davon ist der eingehend referierte, lange, phasenweise erbittert polemisch abgelaufene Klärungsprozeß hinsichtlich Herkunft und Entstehung der sogenannten Bessererscheiben in der sogenannten Besserer-Kapelle. Noch 1985 wurde eine These aufgestellt, wonach diese Scheiben aus Brügge importiert worden sein sollten. Heute sind sie fest in der Geschichte der Ulmer Glasmalertradition verankert und Hans Acker (Hans von Ulm) zugeordnet.

Auch die vier älteren Chorfenster kamen längst zu ihrem Recht, die einst irrtümlich als um 1450 entstanden viel zu spät datiert und daher als epigonale Arbeiten völlig falsch beurteilt worden waren.

Werke wie dieses ermöglichen dem Laien einen Einblick in Entstehungsprozesse gesicherten Wissens. Aber auch in die konservatorischen Probleme. Um die vorliegende Aufnahme des Erhaltungszustandes zu ermöglichen, wurden Gerüste aufgestellt, Scheiben ausgebaut, zwei Jahre später Nachschau-Untersuchungen durchgeführt, doch können viele in situ angefertigte Fotografien nicht mit jenen konkurrieren, die 1941 von den ausgebauten und in Sicherheit gebrachten Scheiben angefertigt wurden.

Vor allem aber lenkt erst ein Buch wie dieses den Blick von der Großartigkeit der Raumwirkung und Gesamtkonzeption mittelalterlicher Glasfenster auf die Fülle beeindruckender Details, auf das Können der Glasmaler (die des Ulmer Münsters waren zugleich Tafelmaler), auf den Ausdruck der Gesichter, intensiviert die an Ort und Stelle gewonnenen Eindrücke und macht es möglich, sich in alles zu vertiefen, was dem Blick des flüchtigen Besuchers entgeht.

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