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Digital In Arbeit

Der Hundertälirige

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Ist der Vater zu Hause?“ fragte ich das alte Männchen, das aufmachte. Es nickte und ließ mich in ein kleines Zimmer ein, wo ein noch älteres Männchen saß, das fast tot war. Eilig riß ich ein Sprachrohr von der Wand und schrie in sein Ohr: „Ich gratuliere I“

„Sie irren sich“, sagte der alte Mann mit dumpfer Stimme, „der Vater ist oben.“

„Ich rannte die Teppe hinauf, denn ich begriff, daß es jetzt Sekundensache war. Da hing der Hundertjährige an den Tauen: er war gerade dabei, ein Vogelnest zu machen. Ich kroch fast in sein Ohr und gellte: „Ich gratuliere!“ Der Jubilar schüttelte den Kopf, machte einen doppelten Salto und sprang zu Boden. „Ich bin nicht taub“, sagte er, den Rock anziehend, „ich bin nur alt. Was ist los?“

„Sind Sie nicht hundert Jahre geworden?“ brüllte ich.

„Mensch, schrei nicht so“, sprach der Greis, die Ringe aufziehend, „ich weiß es schon. Heute abend kommt der Bürgermeister mit einer Dämmerlampe und einem versiegelten Briefumschlag. Die Dämmerlampe ist mir egal, der Umschlag aber interessiert mich. Was steckt man meistens hinein?“ Ich wußte es nicht. „Wozu kommen Sie eigentlich?“ fragte das Männchen unmutig, „kommen Sie etwas anbieten?“

„Ich komme etwas fragen“, sagte ich, „zuerst: wie sind Sie so alt geworden?“

„Es ging von selbst“, antwortete der Jubilar, „jedes Jahr wird man ein Jahr älter, das liegt in der Natur der Dinge. Als ich siebzig war, war ich siebzig, und als ich achtzig wurde, war ich achtzig. Und so nur weiter bis hundert.“

.Tun Sie etwas dazu?“

„Nein, ich tue nichts dazu, es geht von selbst. Das ist das Reizende dieser Arbeit.“

„Wußten Sie, daß Sie es erreichen würden?“

„Anfangs nicht, später aber bekam ich Luft davon. Als ich neunzig wurde, fing ich an, die Todesnachrichten in den Zeitungen durchzunehmen; ich schloß Freundschaft mit dem Portier des Altmännerhauses, und so konnte ich dem Stande auf dem Fuß folgen. Durchhalten, sagte ich mir, die Zähne aufeinander. Und richtig, es gelang.“

„Woran schreiben Sie es zu?“

„Es ist Geduldsache. Beharrlichkeit führt zum Ziele, wer zuletzt lacht, lacht am besten, Ende gut, alles gut, in dieser Richtung müssen Sie es suchen.“

„Wann bekamen Sie eigentlich Luft davon?“

„Genau läßt sich das nicht sagen. Als ich siebzig wurde, war ich noch ein unbedeutendes Männchen, meine Zeit sollte noch kommen. Der achtzigste Geburtstag war sogar ein Tiefpunkt: keinem war es recht klar, warum ich nicht starb, und — ich wollte kein Wort davon verlauten lassen. Da aber fing der Aufstieg an. Als ich neunzig war, begannen die Leute auf mich zu zeigen, und im Alter von fünfundneunzig Jahren hatte ich die Schwierigkeiten hinter mir.“

„Haben Sie Konkurrenten?“

„Es wohnen ein paar Neunziger in der Stadt, ich behalte Sie aber aufmerksam im Auge. Wenn einer Geburtstag hat, schicke ich ihm eine Karte, mein Alter darauf. Das nimmt denen auf die Dauer die Energie.“

„Haben Sie Freude an der Arbeit?“

„Doch. Das Nette unseres Fachs ist, daß, wenn einer einmal ein Jahr voraus liegt, man ihn nicht mehr einholen kann, auch wenn man noch so sein Bestes tut. Jedes Jahr, das e r älter wird, gewinne ich auch eins, und so können die anderen einen nicht einholen. Das bricht sie auf die Dauer.“

„Aber dasselbe Gefühl haben Sie doch denen gegenüber, die über Ihnen liegen?“

„Gewiß. Es sind deren aber nur drei. Einholen kann ich sie nicht; ich kann aber warten. Und indessen lasse ich sie nicht aus den Augen. Die Witwe Boltjens aus Dettmold ist 102 Jahre alt. Schön. Gestern aber fing sie an, zu husten. Dann gibt es den Alt-Zuaven Serremann aus Dülken. Ein Zäher. Er wohnt aber auf dem Norden, auf einer Ecke. Dann gibt es noch von Loggern aus Aachen mit diesem Holzbein. Der hat einen Vorsprung, denn das andere Bein, darum hat er sich nicht mehr zu kümmern. Er braucht aber seit der vorigen Woche eine Brille für die kleinen Buchstaben, und eine Brille, das wissen wir Hundertjährige unter uns, ist der Anfang des Endes.“

„Was machen Sie, wenn Sie obenan stehen?“

„Dann höre ich auf. Es ist mir nicht darum zu tun, den Markt zu verderben, das Jungvolk soll auch eine Chance haben.“

Ubersetzt aus dem Holländischen von A. F. C. Brosens

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