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Der Mensch unserer Tage

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Er ist ein ehemaliger Hochschulprofessor und tritt vermutlich immer noch in einem DP-Lager der Steiermark auf. Vor einiger Zeit ernährte er sich durch Privatstunden in seinem früheren Fach, der Mathematik. Er ist ein sehr geduldiger Lehrer, der begriffen hat, daß eine mathematische Formel für manche Leute ebenso spannend ist wie ein Kriminalroman; für andere dagegen ein Urwalddickicht, in dem es keine Wege und Fährten gibt. So kommen Lehrer und Schüler miteinander auf übliche Weise aus.

Auffallend wird der Hochschulprofessor erst vor und nach seinem Unterricht: ganz gleich, ob Winter, Frühling, Hochsommer — er geht in einem schweren, wattierten Wintermantel einher. An der Seite hängt der Brotbeutel irgendeiner der alliierten Armeen. Darin sind Kochgeschirr und Eßlöffel verstaut. In der Brusttasche birgt er Jahre nach dem Krieg — die wichtigsten Personaldokumente. Er fördert auf Verlangen auch Rasierzeug, Reserveschuhriemen und Gasmaske aus seinem zivilistischen Sturmgepäck. Bisher haben nur wenige ge - wagt, ihn nach seiner Absonderlichkeit zu fragen. Er hat sie über seine Brille, mit einem überlegenen Blick, ohne Worte, abgefertigt. Sie zogen sich beschämt zurück. Vielleicht hat er recht und sie unrecht.

In seiner Umgebung muß man gut kehren. Denn auf jeden Papierfetzen, den Wind oder Besen nicht wegfegten, stürzt er sich und sucht nach einer Nachricht über Leben und Wohlergehen seiner Angehörigen.

Hier erst beginnt die Narrheit. Er selber hat nämlich mehrmals berichtet, wie man vor seinen eigenen Augen seine Frau und vier halbwüchsige Kinder niedermetzelte. Er grub ihnen persönlich das Grab. Trotzdem schnappt sfl, wie der Fisch nach dem Köder, jeden erreichbaren Fetzen Papier auf, um eine Botschaft von ihnen zu erhalten — aus dem Diesseits!

Dieser Eigensinn ärgerte midi und so sagte ich eines Tages zu ihm: „Sie haben es doch selbst mit angesehen. Ihre Frau und Kinder sind tot!“ Der ehemalige Hochschulprofessor glättete die hohe Stirn über einer kühnen Nase und dem eingefallenen Gesicht, strich die graue Mähne und schaute fast verklärt drein: „Man hat mir sogar die Todeserklärungen ausfertigen wollen. Ich weiß es, aber — mir sind sie nicht tot!“ Zwei steile, energische Falten stiegen auf seiner Denkerstirne. Er verabschiedete sich eilig, denn er mußte zum Unterricht. In den schon etwas tatterigen Laufschritt des Fünfundfünfzig- jährigen klapperte der Eßlöffel im schkcht- verstauten Kochgeschirr.

In dem Gedächtnis des Hochschulprofessors klafft eine einzige Lücke. Er weiß nicht, wieso er am Leben blieb, und wahrscheinlich nicht, wofür. Er hält sich jedenfalls bereit zu einer neuen Flucht, zum Abtransport in ein anderes Lager, zum Appell oder zur Heimkehr. Wer weiß das? Jenseits der Wissenschaft, in der er immer noch Meister ist, beginnt die Nacht. Dort mißtraut er sogar dem eigenen Augenschein und tappt mit einem heroischen Aufbäumen gegen die Wirklichkeit ins sichere Nichts.

Der Mensch unserer Tage — lacht nicht! Er läuft vieltausendfach umher; nicht umnachtet, aber im Halbdunkel beständiger Furcht und ständiger Bereitschaft zu etwas Furchtbarem. Es ist gleichgültig, aus welchem Winkel unseres Erdteils er stammt. Genug, daß er irgendeinen Namen und eine Lagernummer besitzt.

Wofür er lebt? Wenn zu anderem nicht, dann dafür, uns den Spiegel de eigenen Daseins mit dem unverhüllten Bild menschlichen Leides und der Vergänglichkeit vorzuhalten.

Wir können nicht Halbnarren werden und uns mit Brotbeutel, Rasierzeug und Wintermantel im Hochsommer aufmachen. Denn auch das nützt nichts. Der Mensch unserer Tage wird am Ende auch keine neue Flucht beginnen oder ein anderes Lager beziehen. Kann aber sein, daß er zu einem letzten Appell befohlen wird. Man wird ihn dort nach einem andern Sturmgepäck fragen. Danach, was er, inmitten von Haß und Gemeinheit, als lauteres Menschentum und letzte Bereitschaft hindurchgebracht hat. Und dieses seelische Sturmgepäck bereit halten — das könnten wir Halbgescheiten von dem Halbnarren lernen.

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