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DIE NACHT ZUM 23.

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Ich werde niemals die Nacht des 23. April vergessen. Am 23. April hielt ich mich in der Mancha auf, ich war Gast auf dem Landgut von Rozalejo bei meinen Verwandten Paco Munoz und seiner Frau Maria de los Llanos. Am 23. April 1616 ist Cervantes gestorben. Ich war nach vielen Bitten von seifen meiner Verwandten und Versprechungen meinerseits in die Mancha gefahren. Die Reise war immer wieder verschoben worden, ich konnte das nun nicht nochmals tun. In dieser Nacht des 23. April hat sich für mich etwas sehr Seltsames ereignet, und noch heute, nach so vielen Jahren, muß ich immer wieder über dieses Erlebnis nachdenken.

„Nun, da bist du ja endlich, lieber Arnaldo!“ sagten mir Paco Munoz und Maria de los Llanos, bei der Ankunft. „Da bist du nun bei uns, obwohl du ja mehr um deines Steckenpferdes willen kommst als um unseretwillen!“

Meine Verwandten begleiteten ihre Rede mit einem spöttischen Lächeln, sie spielten damit auf etwas an, was ich erklären muß. Ja, ich war schließlich in die Mancha gefahren; war dorthin gefahren, zum Teil aus Anhänglichkeit an die Verwandten, aber auch um mir selbst einen glühenden Wunsch zu erfüllen. Paco und Maria wunderten sich nicht darüber, denn da sie wissen, daß ich ein Dichter bin, halten sie mich für ein wenig verschroben. Dabei ist es nicht einmal meine Art verschroben oder gar unverständlich zu schreiben, obwohl das heute so ausgiebig geschieht. Ich achte jede Form dichterischer Gestaltung, aber ich habe zugleich meine eigene, ich bin bei der Arbeit bestrebt, so weit wie möglich, die inneren Entsprechungen der Dinge, nicht die an der Oberfläche sichtbaren, aufzuflnden und sie in feiner Tönung darzustellen. Und nun zum zwingenden Anlaß meiner Reise: ich bin ein leidenschaftlicher Verehrer von Cervantes, habe den „Quijote“ unzählige Male gelesen; es vergeht kein Tag, ohne daß ich mir ein Kapitel dieses Werkes vornehme, und ich besitze ein eigenes, großes Bücherbord voll der verschiedensten Quijote-Ausgaben. Ich bin von dieser Lektüre derart erfültt, daß ich das brennende Bedürfnis hatte, etwas zu tun, um meiner Begeisterung sinnfälligen Ausdruck zu geben. Ich höfe Sie schon,.,-ebenso, wie 'Pacft und Maria, leise sagen: ..Na ja, das ächt Arnaldo!“‘

Nun war ich also in der Mancha, im Herzen dieser weiten Ebene. Das Haus war ein einziges, strahlendes Weiß; Weiß innen und Weiß außen. Schon aus einer Entfernung von fünfeinhalb Kilometern konnte man über der braunen Erde, unter dem wolkenlosen blauen Himmel, die Mauern des Hauses leuchten sehen. Wir befanden uns nach meiner Ankunft, beim Hereindämmern der Nacht, in einem großen Empfangsraum mit Lithographien an den Wänden und Möbeln im Stil Isabella II. Es roch arigenehm nach Lavendel; der von mir so ersehnte Augenblick war gekommen.

„Da ist der Schlüssel!“ sagte Maria de los Llanos und ließ einen großen Schlüssel um ihren Finger tanzen. Das spöttische Lächeln wich dabei nicht von ihren Lippen.

„Geh mit Maria hinauf“, fügte Paco hinzu, auch er mit vielsagendem Lächeln, „und du wirst ja sehen, ob alles so ist, wie du dir’s wünschst.“

Maria und ich stiegen die Treppen hinauf; an dem Schlüssel in Marias Hand hing ein Blechschildchen mit der Aufschrift: „Bodenkammer des Don Quijote“. Ursprünglich war das Haus ein Wirtshaus gewesen; später wurde es in ein Bauerngut umgewandelt und der erste Teil nach und nach um verschiedene Anbauten erweitert. Als Maria, nachdem wir durch viele Korridore und Zimmer gegangen waren, schließlich die Bodenkammer aufschloß, überkam mich tiefe Rührung. Vor Zeiten war der Dachboden der Aufbewahrungsort für das Stroh gewesen. Cervantes sagte im XVI. Kapitel des ersten Teiles des „Quijote“, daß der Held der Mančha beim Aufenthalt in einem Wirtshaus dort in einer Bodenkammer schlief, die vordem zum Strohboden gehörte. Vom Bett gibt Cervantes die kurze Beschreibung: „Vier ungehobelte Bretter auf zwei Querbänken von ungleicher Höhe.“

„Das ist das Bett“, sagte Maria, „das Bett, in dem du in der Nacht des 23. April, das heißt, heute Nacht schlafen willst. Ganz genau haben wir uns allerdings an den Cervantes-Text nicht gehalten. Wenn dieses Bett, wie’s bei Cervantes heißt, nur eine dünne Matratze voll zusammengelegener, harter Wollknäuel hätte und zwei Laken aus sprödem Leder, könntest du überhaupt nicht darin schlafen. Wir haben dafür zwei mit feiner Wolle gefüllte Unterbetten und zwei Leintücher aufgelegt. Wie du siehst, ist unter dem Dach ein Fenster, das keine Läden hat, und durch das der Wind pfeift. Neben dieser Bodenkammer ist ein gemütliches Zimmer mit einem zweiten, eisernen Bett; nun, mach was du willst, Arnaldo, wenn du magst, legst du dich in das Bretterbett, wie du dir’? so sehr gewünscht hast, und wenn nicht, in das im Zimmer nebenan.“

Ich sage es jetzt mit Trauer und auch nicht ganz ohne Vorwurf gegen mich: ich legte mich nicht in das Bretterbett, mein Verlangen war schon durch das Betrachten der Dachkammer befriedigt. So geht es oft im Leben. Ich verbrachte die Nacht in dem anstoßenden Zimmer. Ich verschloß die Tür sorgfältig von innen, um in die Bodenkammer zu gelangen, mußte man unbedingt durch mein Zimmer gehen. Ich erinnere mich, daß ich den Kammerschlüssel auf einen Tisch legte, auf ein Buch mit Maximen des Titus Livius, das ich mir als Reiselektüre mitgenommen hatte. Ich habe viele Bücher über den Schlaf gelesen, und ich habe gesehen, daß niemand weiß, was der Schlaf eigentlich ist. Die gelehrtesten Erklärungen sind die verworrensten. Oft, wenn wir zu wachen glauben, schlafen wir tief, und andere Male, wenn wir uns schlafend glauben, sind wir hellwach. Ich löschte in der Nacht des 23. April das Licht, und ich glaube, daß ich Stunden um Stunden, bis zum Morgengrauen, in einem leichten Halbschlaf hingebracht habe. Als ich, es war kaum hell, aufstand, war mein erstes, in die Dachkammer hinübetku-’ gehen. Das Bett war dųrdįeijjęin 0f jep p J hatte darin geschlafen. Ich hatte wahrend der ganzen Nacht nichts bemerkt, und der Schlüssel lag am Morgen noch genauso auf dem Buch, wie ich ihn beim Zubettgehen hingelegt hatte. War ich das Opfer einer Halluzination? War das Bett schon durcheinander, als ich es beim Dunkelwerden sah? Ich ging später zum Frühstück ins Eßzimmer hinunter und traf dort Paco und Maria. Ich erzählte ihnen den Fall, und beide sagten kein Wort, aber auf ihren Lippen sah ich wieder das spöttische Lächeln. Als ich wieder in meinem Zimmer war, öffnete ich das Buch mit den Aussprüchen des Titus Livius und 'las das folgende: Quod difficillimum videtur, eo ipso facillimum saepe est. (Was einem als das Schwierigste erscheint, ist oft das Einfachste.)

Autorisierte Übertragung aus dem Spanischen von Thekla Lepsius.

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