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„Ein Kind unserer Zeit“

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Im November 1938 erschoß ein Mann namens Grynszpan in Paris den deutschen Gesandtschaftsattache vom Rath. Bei diesem politischen Attentat fiel der Startschuß für die längst geplanten Maßnahmen gegen die deutschen Juden. In der berüchtigten „Kristallnacht“ wurden nicht nur viele Scheiben eingeschlagen, sondern auch Tempel in Brand gesteckt, Juden aus ihren Wohnungen gezerrt und mißhandelt sowie andere wohlgelenkte Untaten verübt. Jahrelang hatte der englische Komponist Michael T i p p e 11, der einer Familie aus Comwall entstammt und 1905 in London geboren wurde, den Plan erwogen, ein Zeitoratorium zu schreiben, das Schicksal der Menschen unserer Tage zu schildern. Das Attentat in Paris und seine bösen Folgen wurden ihm zum Symbol, die Form einer „Passion“ mit Erzähler, Soli und Chören (der Verfolgten und der Verfolger, der Linterdrückten und der Selbstgerechten) schien dem Gegenstand angemessen. In Tidebrook, 80 Kilometer von London, auf dem Lande und weit entfernt vom „Zeitgeschehen“, hat sich der Komponist den Text zu „Ein Kind unserer Zeit“ selbst geschrieben. „Die Welt neigt sich zum Dunklen, es ist Winter“, beginnt der Eingangschor. „Ist Böse denn Gut, Vernunft Betrug? Wo ist Rettung, wo ist Hoffnung“, fragt das Altsolo und erhält von einem fugierten Chor die Antwort: ;,Wir sind wie Saat, wie Saat' im Wind. Wir sind ausersehen zum Schlachtopfer.“ Ueber den Täter heißt es: „Sein andres Selbst wächst in ihm, dämonisch und vernichtend. Er erschießt den Beamten. Doch er trifft nur seinen Nächsten.“ Nach dem dramatischen Wechselgesang der Solostimmen und der Chöre heißt es dann über den Knaben, den Attentäter: „Auch er verworfen, sein Leib zerstückt in dem Getriebe der Macht. Gott zerbrach ihn, das Kind unserer Zeit.“ Aber: „Heilung quillt aus dem Schoß der Zeit.“ Das allein erschiene uns als eine wenig befriedigende, nur poetische Lösung. Bezeichnend ist, daß Tippett zu all dem nicht selbst das letzt Wort zu sagen sich getraut, sondern, den Chorälen in Bachs Passionen entsprechend, eine Reihe vom Chor gesungene Negro-spirituals eingefügt, die in ihrer schlichten Frömmigkeit von ergreifender Wirkung sind: „Stiehl dich fort zu Jesus, stiehl dich heim, wir sind nur kurze Zeit hier!“ — „Wer kennt die Not, den Kummer, als Du, Herr?“ — „Geh hin, Moses, geh nach Aegypten, hin, sag dem Pharao: der Herr spricht: Laß uns ziehen!“ Und das letzt Chorspiritual klingt aus mit den Worten: „Tiefes Wasser, mein Heimat ist überm lordan. Nimm mich, Herr, zu Dir, zu Dir in die ewigen Gründe!“ Michael Tippett, der in hervorragender Kenner der vorklassischen, elisabethanischen Musik seines Heimatlandes ist, wurzelt in dieser Tradition und spricht eine streng tonale, konservative Tonsprache, die da und dort, wo sie modernere, besonders songmäßige Elemente einbezieht, der Menottis nicht unähnlich ist. Starke dramatische Akzente setzt er etwa im Kanonchor der Unterdrückten oder in den an einen bekannten Bach-Chor anklingenden Terrorrufen „Brennt ihre Häuser! Schlagt sie zu Brei!“. Von großer Schönheit ist das bereits erwähnte Finale und ein dieses präludierendes Bläserpastorale. — Von der Aufführung im großen Sendesaal des Oesterreichischen Rundfunks durch die Wiener Symphoniker, den Rundfunkchor und die Solisten Dorothea Siebert, Hilde Rössel-Majdan, Waldemar Kmerttt und Hans Braun unter der Leitung Rudolf Moralts war der anwesende Komponist sichtlich beeindruckt und lenkte den minutenlangen Applaus immer wieder von sich auf die Ausführenden. (Das besprochene Werk ist am 20. Mai um 15.30 Uhr im III. Programm und am 17. Juni um 11.15 Uhr im II. Programm zu hören.)

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