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Ein Volksbuch wider seine Zeit

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In und um den Dreißigjährigen Krieg bildeten sich etliche literarische Vorwürfe zu Volksbüchern und Volksschauspielen aus, die im offenkundigen Gegensatz zum Geist und zur Gesittung ihrer Zeit ständen. Da schuf zum Beispiel der Tiroler Leibes- und Seelenarzt Dr. Hippolyt Guarinoni die Legende von der Bauernmagd Notburga, die nichts anders will als ihrem Herrgott und ihrem Bauern treulich zu dienen. Inmitten unter den geldgierigen Knappen und Goldsuchern entstand die Umdichtung des Faustbuches in dem Sinne, daß nicht der Kampf zwischen Wissen und Glauben, sondern zwischen Abfall und Gnade ihm zugrunde gelegt werden müsse. Das bekannteste Volksbuch wurde die Legende der Genoveva von Brabant.

Alle drei Werke gehen auf Vorkämpfer aus Tirol zurück, die den Dreißigjährigen Krieg miterlebt hatten. Sie kannten nur ungeschlichtete Gegensätze, die sich ausschließen und vernichten wollten, nur Verwüstungen und Elend, trugen wenig Höff-nungsfreude in sich und drangen sich nur mühsam zu einem fernen Licht vor, so willensstark, ja eigenwillig uns diese Persönlichkeiten entgegentreten. Aber das Schicksal ihrer Entwicklung wurde Erneuerung ihrer Umwelt. Sie dienten nicht allein ihrer schweren Zeit, sie bauten eine neue Welt tauf, die im Unterbau Stützen bis auf unsere Tage hinterließ. Zu ihnen gehört jenes Volksschrifttum, clas sie im wesentlichen geformt haben.

Die Geburtsgemeinde des „Weibsteufel“-Dramatikers Karl Schönherr, das Dorf Axams auf dem Mittelgebirgsboden südwestlich von Innsbruck, begann an den Sonn- und Feiertagen des nunmehr abgelaufenen Augusts ihr altes rührseliges Volksschauspiel „Genoveva von Brabant“ in

Lebens zum Trotz bewährte eine „Romantik“ ihre Zugkraft, die man in so manchem Ausdruck des alten Stückes als zeitfern und sentimental bezeichnen muß. Aber da unterschied das Publikum immerhin: das Kitschige des Hin- und Herziehens eines Versatzstückes, das die Hirschkuh der ins Elend hinausgestoßenen Schloßgräfin und ihres Söhnleins darstellen- sollte, wurde belächelt oder verlacht, dagegen das Unschuldsleben der viel verfolgten, ehetreuen Gattin mit großer Teilnahme verfolgt. Die Axamer sind keine Heiligen oder

Duckmäuser und waren es auch nie. Nach dem Dreißigjährigen Krieg kam dort nicht bloß das Volksschaüspiel der Genoveva, sondern im besonderen der Kult der heiligen Kümmernis auf. Seit dem frühen Mittelalter besaßen die Stiftsfrauen von Chiemsee hier manches Gut und manches Recht. Diese Stlftsfraüen führten nicht nur den Flächsbau, die Feinstickereien und anderes Hausgewerbe in Axams ein, sie bekämpften auch sittliche Schäden des 17. Jahrhunderts durch die Pflege des Kümmerniskultes. Von Axams breitete sich der Kult im übrigen Tirol aus, vornehmlich wiederum an Orten, in denen das Stift Chiemsee Besitzungen innehatte. Der Kult, ist-fast nirgends mehr Lebendig. Nur Votive wie Frauenhaare und' -Wachsr kröten erinnern an die ehemaligen Opfer der Axamerinnen und an ihre Anliegen. Auch die Feinstricker, Wachsbossierer. Para-mentenschneider, die für Kirche und Kult, für Hausschmuck und gekleidete Krippen, für Spiele und Umzüge arbeiteten und es zu großen Fertigkeiten brachten, sind so gut wie ausgestorben. Daß Männer die feinsten Seidennähereien einstmals besorgten, klingt heute unglaubwürdig. Als jedoch das Axamer Mittelgebirge anläßlich des'70. Geburtstages Karl Schönherrs eine Ausstellung seiner alten Hauskostbarkeiten veranstaltete, da staunten Stadt und Land über diese Leistungen aus dem 17. Jahrhundert. Ein Blick in die Axamer Pfarrkirche, auf die Tragbilder der Prozessionen, auf die Krippenfiguren verschiedener Häuser zeugt noch immer für die Pracht und die Beschäftigung der alten Axamer. Hier sorgten die Bauern für die beste Schafwolle. Hier bauten sie Flachs und Hanf an. Da gab es auf jedem Hof einen Webstuhl und setzte die letzte Bäuerin ihren Stolz darein, für sich und ihre Kinder, für ganze Geschlechter weißes Linnen und dunkles Tuch in Kisten und Kasten anzusammeln.

Das alles mag man sich wieder in Erinnerung rufen, wenn man die Zeit und das Streben der neuen Männer sich vergegenwärtigt, die eine Genoveva auf die Bühne riefen. Sie wurde freilich nicht über Nacht zur Volksgestalt. Die berühmtesten Verfasser von Heiligenlegenden befaßten sich mit dem Vorwurf des schließlichen Sieges der Ehetreue. Da war der Innicher Matthäus Rader, der die Herzogstochter von Brabant in seine „Bavaria Sancta“ aufnahm. Der Haller Andreas Brunner setzte ihr ein Jahr darauf in seinem Marienwerk ein Denkmal. Das waren gelehrte, lateinisch geschriebene Bücher. Erst der Innsbrucker Universitätsund Hofprediger Michael Staudacher, von dem Professor Nikolaus Scheid feststellte, daß er das reinste Deutsch seiner Zeit schrieb, brachte 1648 ein Volksbuch zustande. Er hatte die berühmte Biographie aus der Feder des Franzosen Rene de Ceri-siers (1638) ihm zugrunde gelegt und eine schlichte Erzählung daraus geformt, von der nun die weiteren Hagiographen und Dichter seinem Dorftheater aufzuführen. Bei jeder Vorstellung war das Spielhaus ausverkauft. Es mußte außerdem eine solche für die Kinder dieses Mittelgebirges gegeben werden und schließlich konnte man sich an den Fingern ausrechnen, daß fast jeder theaterbesuchsfähige Bewohner dieser Gegend sich zu dieser „Genoveva“ eingefunden hatte. Die Veranstalter luden mich daher ein, doch einmal eine solche Aufführung anzusehen. Was ich am wenigsten erwartet hatte, war der Fall: vornehmlich war es die Jugend, die Heimkehrer und die Mädel zwischen 18 und 30 Jahren, die sich dazu eingefunden hatte und die größte T?ilnahme bekundete. Mag immerhin die komische Figur, die noch diesem Volksschauspiel zu eigen ist, manchen angezogen und erheitert haben, so blieb doch der Vorwurf das Entscheidende. Aller „Realistik“ des

Mitteleuropas ausgingen: „Das ist wunder-barliche Leben und denkwürdige Geschichte der heiligen Genoveva, geborenen Herzogin von Brabant.“ Durch die Herübernahme_ der Legende in sein „Auserlesenes History-Buch“ ferhalf ihm Martin von Kochern zum unwiderstehlichen Siegeszug auf dem Festland.

Die rauschendsten Erfolge erzielte Stau-dachers Volksbuch als Vorlage für Theaterstücke und Volksschauspiele. Das großartigste Bühnenwerk seiner Zeit schuf der Südtiroler Nicolaus Avancinus, der Meister der kaiserlichen Festspiele in Wien. Aber wie ein heiliger Eustachius scheint schon zuvor eine heilige Genoveva dem Spielplan der Innsbrucker Hofkomödianten, die durch ihre Vorstellungen vor der zum Katholizismus in Innsbruck feierlich übergetretenen Königin Christine von Schweden in die Theater-gschichte eingingen, auf ihren Fahrten durch Tirol, Kärnten, Krain und Steiermark gedient zu haben. Auf den Tiroler Volksbühnen errang das Brabanter Legendenstück den eisten Platz als Gegenstück zum dämonischen Doktor Faustus. Es wurde neben diesem denn auch an der Ahr in Südtirol aufgeführt. Der Stubaier Schmiedeplatz Fulpmes bewahrt noch ein Plakat einer alten dortigen Genoveva-Aufführung. Literaten wie Bauernfeld, Castölli, Immermann und Lewald besprachen eigens solche Inszenierungen der Innsbrucker Vorstadttheater. Keiner und keine der vielen dörflichen Bearbeiter der alten Volksstücke ließ sich das Genovevamotiv entgehen. Die im Vormärz berühmt gewesene Leiterin des Büchsenhausener Mädchentheaters oberhalb Innsbruck, die Schusterswitwe Anna Brixin, hatte eine Bearbeitung ebenso besorgt wie der „Bauern-Shakespeare“ des Unterinntals, der Kohlenbrenner Georg Schmalz in Brixlegg. Die letzte Leiterin des Pradler Bauerntheaters, das als Innsbrucker Vorstadtbühne bis in den ersten Weltkrieg .hinein jeden sommerlichen Sonn- und Feiertag stärkste Anziehungskraft ausübte, Josefine Weiß, ließ gleichfalls von Zeit zu Zeit ihr Genovevastück über die Bretter gehen. Und so wies fast jede Dorfbühne ein solches aus, in Tirol und in Kärnten, in Steiermark und Salzburg, im ganzen Bereich unserer VolksschauspieÜe, nicht zuletzt das spielfrohe Axanms, dessen Theaterkalender sich bis ins Jahr 1651 zurückverfolgen läßt. Mit seinen Augustaufführungen von 1946 füllt es ungefähr dreihundert Jahre des Bestandes vom Volksbuch der Dulderin und Siegerin Genoveva auf.

Vom volkskundlichen Standpunkt aus ist freilich der Wandel am beachtenswertesten,

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