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Frau Sopherl überlebt

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Der Naschmarkt muß weg. Nein, der Naschmarkt bleibt. Der Naschmarkt verschwindet aber doch. Nein, er bleibt. Dieses neckische Spiel wurde Jahrzehnte gespielt. Ob man im November 1916 an das bekannte Bonmot eines berühmten Österreichers dachte, in Österreich sei nichts so dauerhaft wie ein Provisorium? Seit damals war der Naschmarkt ein Provisorium. Seit damals wird es hin und her geschoben, wenn auch nicht in Wirklichkeit, sondern nur auf dem Stadtplan.

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Der Naschmarkt muß weg. Nein, der Naschmarkt bleibt. Der Naschmarkt verschwindet aber doch. Nein, er bleibt. Dieses neckische Spiel wurde Jahrzehnte gespielt. Ob man im November 1916 an das bekannte Bonmot eines berühmten Österreichers dachte, in Österreich sei nichts so dauerhaft wie ein Provisorium? Seit damals war der Naschmarkt ein Provisorium. Seit damals wird es hin und her geschoben, wenn auch nicht in Wirklichkeit, sondern nur auf dem Stadtplan.

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Denn der Naschmarict ist nur deshalb dort, wo er ist, weil er dort, wo er war, nämlich auf der Wiedner Hauptstraße, nicht länger bleiben konnte. Und weil man keine Zeit hatte, einen geeigneten Platz für ihn zu suchen. Das eingewölbte Wienbett wurde keineswegs für geeignet befunden. Es war nur als vorläufiger Standort gedacht.

Heute kann man sich den Naschmarkt ohne Naschmarkt nicht mehr vorstellen. Verzeihung, es müßte natürlich heißen: Die Wiemzeile kann man sich ohne Naschmarkt nicht mehr vorstellen. Dieser Platz hat sich hervorragend bewährt. Letzter Stand: Der Naschmarkt bleibt, kommt aber weg. Der Großmarkt weicht an die Peripherie aus, denn abgesehen von allen Durchzugsstraßenprojekten kann man sich einen Verkehrserreger dieser Größenordnung in dieser Lage tatsächlich nicht mehr leisten. Wann die großen Veränderungen beginnen, hängt vom Abschluß eines Enteignungsverfahrens ab. Die Arbeiten auf dem neuen Platz zwischen Laxenburger Straße und Pottendorfer Linie haben jedoch bereits begonnen. Als erstes wird der Blumengroßmarkt entstehen. Der Detailmarkt bleibt ungefähr dort, wo er ist, und das ist ein Glück, denn sein Abzug hätte die Innenstadt nicht nur eines charmanten Farbtupfens beraubt, sondern zweifellos auch die Preise in den Gemüsegeschäften der Umgebung in die Höhe schnellen lassen. Einiges von seiner preisdämpfenden Funktion wird er ohnehin verlieren. Schon durch die größere Entfernung vom Großhandel. Das Schicksal der „Insel“ dürfte noch in den Sternen stehen. Die „Insel“ ist ein ambulanter Markt, der täglich aufgebaut und wieder abgeräumt wird. Hier ist heute alles am billigsten. Aber auch an Atmosphäre wird der Naschmarkt verlieren, denn die „Nachmarktbuden“ sollen modernen Objekten weichen. Und das heißt auf alle Fälle: häßlichere Bauten. Denn

Wien ist heute offenbar nicht in der Lage, auf irgendeinem Gebiet der Architektur irgend etwas zu schaffen, was irgendeiner seiner zahlreichen Vergangenheiten bis herauf zum Jugendstil würdig wäre. Auch nicht auf dem Gebiet des nacktesten Zweckbaues, wie ihn Marktstände

darstellen. Die heutigen Stände haben nämlich zweifellos ihre bauliche Ästhetik. Um zu erfahren, was hier verlorengehen wird, braucht man sich nur auf den Karmeliter-markt im zweiten Bezirk zu begeben, der nach dem zweiten Weltkrieg entstanden ist. Übelste Einheitsarchitektur. Doch was heißt da Architektur? Ungestaltetes Einerlei. Wien konnte allerdings noch nach dem zweiten Weltkrieg bauen. Siehe die Stadthalle. Aber auch diese Architektur gehört bereits zu unseren Vergangenheiten.

Frau Sopherl wird den Gesichtsverlust des Naschrnarkts überleben. Sie wird sich in den neuen Ständen vielleicht ebenso wohl fühlen wie in den alten. Vielleicht noch wohler. Das hängt nur vom Komfort ab, den sie bieten werden, nicht von ihrem Aussehen. Frau Sopherl ist eine Wienerin. Wien ist keine Stadt der Architekturästheten. In Wien sind auch in den letzten hundert Jahren herrliche Bauwerke entstanden. Aber in den letzten hundert Jahren meist gegen die Wiener. Natürlich werden sie um den Naschmarkt weinen. Aber nicht, weil er schön war, sondern weil er vertraut war. Sie würden heute sogar um das Loos-Haus weinen.

Frau Sopherl ist trotzdem sozusagen der gute, alte Geist des Wiener Naschmarkts. Frau Sopherl ist eine Person mit Tradition, ja mehr, mit Geschichte. Schon vor hundert Jahren, lang bevor der Naschmarkt auf dem Naschmarkt war, war die Wiener Marktstandlerin wegen ihres Mundwerkes international berühmt. Kommt zum Beispiel eines Tages, vor dreißig, vierzig Jahren war's, eine „vornehme Dame“ an einen Blumenstand und riecht, der Reihe nach, an vier oder fünf Veilchensträußerln. Frau Sopherl kocht innerlich bereits, hält sich aber noch zurück. Die Dame fragt: „Was kosten die Veigerln?“ „Zwanzig Groschen das Büscherl!“ (Ja, ja, das war einmal...) „Was, so teuer?“

Das hätte sie nicht sagen sollen.

Weithin hörbar schallt es der Flüchtenden nach: „Wissen S' was, Sie Gnädigste? Gengan S' durt ume zu meiner Kollegin und kaufen S' Ihna an Gorgonzola! Der is bulliger, wenn S' ihn ang'sohaut haben, können S' ihn essen, und riachen tuat er ah!“

Auch mehr als ein Jahrhundert früher war die Schlagfertigkeit der Naschmarktfrauen offenbar bereits legendär. Sogar der Kaiser von Rußland, der Zar Alexander, bekam sie anläßlich seines Aufenthaltes beim Wiener Kongreß zu spüren. Allerdings — er hatte es ja so wollen. Inkognito begab er sich auf den Naschmarkt, um einmal selbst festzustellen, was es mit der Wiener „Hantigkeit“ auf sich habe. Also fand er die Äpfel, die er angeblich kaufen wollte, nicht nur teuer, sondern obendrein viel zu sauer. Wobei er ausgerechnet an die berühmtberüchtigte „Maschanager-Kathi“ geriet.

Die Überlieferung berichtet, der Kaiser sei voll und ganz auf seine Rechnung gekommen. Angesichts der Flut nie gehörter Schimpfwörter, die auf ihn herniederprasselte, konnte er sich nur schleunigst in Deckung begeben. Ein „zufällig“ des Weges kommender Herr raunte der Kathi zu: „Um Gottes willen, san S' still, das ist doch der Kaiser von Rußland!“ Worauf die Maschanzger-Kathi tief einatmete und so laut, daß es auch der enteilende Kaiser noch hören konnte, kreischte:

„Du, Annerl, hast dös gehört? Der Schmutzian will an Kaiser sein! Geh, setz eahm dei Zuspeishefen auf, damit er wenigstens a Krön aufm Schädel hat!“

Heute ist es weitaus schwerer, Frau Sopherl so zu reizen, daß sie sich zu derartigen Temperamentsausbrüchen hinreißen läßt. Die Zeiten sind vornehmer geworden. Es geht auf dem Naschmarkt weit gesitteter zu als einst. Und nicht nur auf dem Naschmarkt. Wir wurden auf der ganzen Linie feiner — oder soll man sagen zimperlicher? Was einst in Theaterkritiken oder politischen Polemiken gefahrlos geäußert werden konnte, würde heute ein kostspieliges Nachspiel vor dem Kadi nach sich ziehen. Kein Wunder, wenn es auch die Frau Sopherl heute längst viel billiger gibt.

Beim Reden wenigstens. Denn ihre Preise sind gestiegen. Wobei man allerdings zugeben muß, daß die Sachen auf dem Naschmarkt teilweise noch immer viel billiger sind als anderswo. Dabei hängt aber viel von der Lage des jeweiligen „Standeis“ ab. Seit der Naschmarkt auf der Wiemzeile sein Domizil hat, gibt es das berühmte „Naschmarktpreisgefälle“ von der Secession stadtauswärts. Am Anfang des Naschmarktes, zwischen Verkehrsbüro und

Theater an der Wien, sind die Stände am schönsten hergerichtet, die Preise am höchsten, die Sopherln am rundlichsten. Trotzdem wird zehn Minuten stadtauswärts sehr viel mehr Geld verdient, dort residiert nämlich (noch) der Großmarkt. Dort drängen sich nicht die einkaufenden

Hausfrauen, sondern die Lastautos. Und die Markthelfer. .

Abladen, Aufladen, Kistenschieppen — das ist ihr Tagwerk. Oder vielmehr ihr Nachtwerk, denn vor der Morgendämmerung wird dort viel mehr gearbeitet als bei Tag. So wie die Wiener Dienstleute hatten einst auch die Markthelfer zwar kein Amtskappel, aber immerhin ein Dienstkappel auf dem Kopf, auf dem ein Messingschild mit Berufsbezeichnung prangte. Einen Mann mit solcher Kopfbedeckung hat der Berichterstatter vor einiger Zeit noch gesehen.

Es ist nicht leicht, Markthelfer zu werden, denn man verdient bei diesem Job nicht schlecht. Kein Wunder, wenn sich darum mancher bewirbt, dem man die Eignung ansieht, ohne daß er seinen Oberarm entblößt. Ich ging vor Jahren einmal an zwei debattierenden Männern vorbei, die neben einem Lastwagen standen. Der eine wollte beim Abladen helfen, der andere erteilte ihm die Absage mit einer Flut von Werten, unter denen ich kein einziges als bekannt identifizieren konnte.

Aber ich habe bei Chiavacci nachgeschlagen, dem Altwiener Feuilleto-nisten, der die bei solchen Gelegenheiten im vorigen Jahrhundert üblichen Formulierungen für die Nachwelt aufgezeichnet hat: Zum Beispiel: „Zsammgschnarfter Kletzensepperl, laß die heimgeigna!“

Chiavacci hatte den mörderischen Humor, das für seine norddeutschen Leser gleich auch zu übersetzen: „Du an SAwindsucht leidendes, gedörrtes Birnen-Josefchen, laß dich auf deinem Heimweg mit der Violine begleiten!“

Mag sein, daß man es heute etwas

anders sagt. Der Ton ist der gleiche geblieben, hier schon. Auch die Arbeit ist im Grunde wohl unverändert, die Ware kommt natürlich nicht mehr mit dem Pferdefuhrwerk und auch nicht, wie es vor hundert Jahren ebenfalls üblich war, auf von Hunden gezogenen Gefährten. Aber beim „Kistenschupfen“ ist es geblieben. Noch ist die Marktarbeit nicht mechanisiert und rationalisiert Was vom Markthelfer übrigbleibt, wenn es einmal so weit ist?

Bei der Errichtung des neuen Naschmarktes wird man natürlich vieles verbessern. Vor allem wird man bei der Planung die Verschiebungen in unseren Ernährungsgewohnheiten berücksichtigen. So verbraucht der Durchschnittswiener nur noch einen Bruchteil des Quantums an Erdäpfeln, Erbsen, Bohnen, das er vor einigen Jahrzehnten verzehrt hat, von Brot und Mehl ganz zu schweigen, da es sich dabei um Waren handelt, die den Naschmarkt nicht interessieren.

Dafür stieg der Verbrauch an Obst und Südfrüchten innerhalb von drei Jahrzehnten von 35 auf mehr als 70 Kilogramm pro Kopf und Jahr. Wien Importiert mehr denn je aus Italien, die Oslander sind noch oder wieder wichtige Lieferanten, Bananen kommen aus Westtndien und Somaliland, Orangen aus Sizilien und Spanien, Israel nicht zu vergessen, Kokosnüsse aus Ceylon, andere Obstsorten aus Griechenland, Südafrika, Amerika. Bund 45 Prozent davon gehen über den Naschmarkt. In unmittelbarer Umgebung des neuen Marktes werden neue Kühlhäuser nötig sein. Wer weiß, wieviel Ähnlichkeit er überhaupt noch mit dem halben wird, was man heute noch unter einem „Markt“ versteht. Denn seien wir ehrlich — dem heutigen Naschmarkt fehlt es an vielem. Nämlich jenem Teil des Nar'wnarktes, wo nicht genascht, sondern handfest und in größerem Maßstab gehandelt Wird. Es fehlt dort an Platz, an sanitären Einrichtungen.

Was übrigens das Naschen betrifft — nicht davon hat der Naschmarkt seinen Namen. Er hieß vielmehr, vor langer Zeit, ..Ascfomairkt“, auch ..Aschenjnarkt'', weil er damals auf einer ehemaligen Mistablagerungs-stätte stand.

Der Großmarkt auf dem Naschmarkt wird den Geruch von Äpfeln, Zwiebeln und Bananen und das zugegebenermaßen nicht besonders hygienische Parfüm verfaulender Obst-und Gemüsereste mit sich nehmen an die Peripherie.

Die Anrainer handeln dafür den Gestank der Auspufftöpfe ein. Und für das ruhestörende nächtliche Aufschlagen der Kisten auf das Pflaster den Lärm der Motoren und das Quietschen der Reifen und Bremsen.

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