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EINWICKELPAPIER

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Lesen Sie auch Einwickelpapier? Es sind schlechte Zeiten für uns Einwickelpapierleser. Die meisten Firmen sind so vornehm geworden, unbedrucktes Papier zu verwenden oder solches mit Reklame darauf. Da fühlt man die Absicht und ist verstimmt. Nur die Gemüsefrau hat noch Verständnis für die feine Psyche des leidenschaftlichen Lesers: sie wickelt Tüten aus Zeitungspapier und schlägt die Salatköpfe in Revolverblätter ein.

Der russische Dichter Konstantin Paustowskij entdeckte auf einem Fetzen Papier, einem Stück Landkarte der Moskauer Umgebung, in das man ihm den Tee eingewickelt hatte, die Landschaft seines Lebens: Meschtjera. „Alles auf dieser Karte reizte mich,“ berichtet er, „die dichten Wälder, die Seen, die schmalen, geschlängetfen Waldflüsse, die einsamen Wege und sogar die Gasthäuser. Noch im gleichen Jahr fuhr ich nach Meschtjera, das seitdem zu meiner zweiten Heimat geworden ist. Nichts hat mich so zu bezaubern verstanden wie dieses stille grüne Land mit seinen durchsichtigen, langsam fließenden Flüssen, seinem matten nördlichen Himmel, seinen Nebeln, seinem Tau.“ — Paustowskij s schönste Erzählungen entstanden dort. Einwickelpapier!

Erstaunlich viel Minderwertiges steht auf Einwickelpapier. Es scheint da eine negative Auslese zu herrschen. Das ist schon ein gewisser Anreiz. Hinzu kommt die natürliche Neugier, die Freude am Spiel des Zufalls und das Gefühl, etwas zu lesen, was nicht für einen bestimmt ist, was man „eigentlich“ nie lesen würde. Schließlich noch die Lust, so preiswert etwas Zusätzliches zu erfahren. Doch das sind Motive, die man auch hat, wenn man in der Straßenbahn oder sonstwo über die Schulter des Nachbarn hinweg dessen Zeitung liest. Die Leidenschaft, Einwickelpapier zu lesen, ist viel tiefer fundiert. Bedenken Sie bitte, daß die Botschaften des Einwickelpapiers immer veraltet sind. Sie haben ihre Bedeutung verloren. Da wird eine Krise ernstgenommen, die schon lange vergessen ist. Da wird ein Verbrecher gesucht, der längst geschnappt wurde. Welch ein Zartgefühl!

Annoncen liest man, an die sich keine Hoffnung mehr knüpft. Eine irreale Welt tut sich auf. Da ist ein Romankapitel, das nie seine Fortsetzung finden wird. Filme, die man gesehen haben mußte und die keiner mehr kennt. Leitartikel, die zu Scherzartikeln wurden. Und das alles dankt man der Gemüsefrau. Man sollte viel mehr Gemüse essen.

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