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Schmelztiegel Toronto

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DURCH EIN TUNNEL GLÜCKTE DEM jungen Heinz Reinhold aus Ostberlin die dramatische Flucht nach dem Westen. In Toronto fand er eine neue Heimat. Gefragt, warum er sich in der Metropole am Ontariosee niedergelassen habe, antwortete er — wie viele andere — „weil ich Freunde hier hatte.

• Jeder Dritte der 1,700.000 Torontoer ist ein Einwanderer. Vor zwanzig Jahren betrug die Einwohnerzahl bloß 925.000. Mehr als 1,000.000 der Torontoer kamen von auswärts. Aus anderen Gebieten Ontarios, aus anderen kanadischen Provinzen und aus anderen Ländern...

In einer soeben veröffentlichen Studie — Boomtown Toronto — wird erwähnt, daß jeder vierte Neukanadier sich in Toronto niederläßt. Die Löhne sind hier höher, die Lebensbedingungen besser. Ein neues Auto kann sich jeder leisten, wenn er nur das Geld für die Anzahlung hat. „Es ist eine energische Stadt“ , urteilt ein britischer Einwanderer. „Niemand bummelt hier...“ Zyniker bezeichnen dieses Lebenstempo als „rat race“ , als „Rattenrennen“ — mit König Dollar als lockenden Preis.

„Als Junge war ich daran gewöhnt, hunderten von Indianern zu begegnen“ ,“ schrieb der“ berühmte Maler Powl Karte in seinen im Jahre 1859 erschienenen Memoiren und fügte hinzu, daß Toronto „nun eine Zitadelle des Kommerz geworden sei .

OBWOHL DIE 1,000.000 TORONTOER britischer Abstammung die Majorität bilden, ist das Bevölkerungsmosaik der Metropole am Ontariosee faszinierend. Italiener (150.000) und Deutsche {75.000) sind die stärksten Minderheiten. Ihnen folgen die Franko-Kanadier, Polen und Ukrainer mit mehr als 50.000 und die Ungarn (45.000). Doch selbst die kleineren Volksgruppen, wie die Osterrejcher (10.000), Finnen, Portugiesen, Chinesen, Holländer, Tschechen und die dunklen Westindier, geben dem Stadtbild eine besondere, kosmopolitische Note.

„Die Stadt ist voll Aktivität“ , schrieb der Dichter Charles Dickens während seines Besuches in Toronto vor 120 Jahren, und das mag das einzige sein, was sich in der Metropole am Ontariosee nicht geändert hat. An die Tatsache, daß Toronto einst die Hochburg der Puritaner war, erinnern heute nur einige Details. Der „Toronto Daily Star“ (Auflage 360.000) akzeptiert bis heute keine Inserate von Whiskybrennereien und Brauereien; im Warenhaus der T. Eaton Co. ist alles zu haben, mit Ausnahme von — Tabakwaren; und Bars sind hier am Sonntag geschlossen, wie die Hand eines Geizigen,

IMMER NOCH BESTEHT die Rivalität mit der Stadt Montreal, der franko-kanadischen Metropole, die 1967 die Stätte der Großen Weltausstellung sein wird. Der Humorist Eric Nicol nahm diese Rivalität aufs Korn, als er scherzte: „Kanadier sind ernste Naturen. Es gibt Leute, in Toronto, die seit 20 Jahren nicht gelacht haben — es sei denn, etwas Unangenehmes ereignete sich in Montreal...

Jedes Jahr steigt ständig die Bevölkerungsanzahl in Toronto um 50.000 und wird 1970 die 2,000.000-Grenze überschritten haben. Doch noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts befand sich in dem Stadtgebiet ein befestigter, französischer Handelsposten — Fort Rouille.

Als Sir John Graves Simcoe, der britische Gouverneur, den Ort wegen seiner günstigen, strategischen Lage am Ontariosee als Residenz auserwählte, war das Terrain eine Wildnis. Erst der Zustrom der Siedler aus den Vereinigten Staaten, die auch nach der amerikanischen Revolution der britischen Krone die Treue hielten, gab dem Ort eine gewisse Bedeutung. Noch vor achtzig Jahren lebten weniger als 150.000 Einwohner hier — weniger als ein Zehntel der heutigen Bevölkerungsanzahl. Nicht mit Unrecht sagte ein Neukanadier aus Frankfurt am Main: „Kaum jemand scheint in Toronto aufgewachsen zu sein. Wir alle kommen von irgendwo — wie bei einem Goldrausch! Das macht das Leben hier so interessant...

IN DER SPHÄRE DER KULTURELLEN Aktivitäten, im Reich der Musik, des Balletts, in Theater und im Fernsehen, wird Toronto in Nordamerika — so behaupten lokalpatriotische Canadians — nur von New York übertroffen. In Toronto hatte das so erfolgreiche amerikanische Musical ..Camelot“ seine Uraufführung. Im Maple Leaf Gardens zeigten die weißen Hengste von Wiens Spanischer Reitschule ihre Künste. Im O'Keefe-Centre, dem von der Brauered gleichen Namens errichteten Theater mit 3200 Sitzen, faszinierte das römische Musical „Ruggantino“ (in Italienisch) die Zuschauer. Im Royal Alexandra, dem von dem Verkaufsgenie „Honest Ed“ (Ehrlichen Ed) vor dem Abbruch geretteten wunderschönen Theater, jubelten die Zuschauer Jean-Louis Barraults Theatre de France zu. Obwohl Deutschland hier durch ein Goethe-Haus repräsentiert ist, scheint Toronto bisher (was repräsentative Gastspiele deutschsprachiger Ensembles betrifft) recht stiefmütterlich behandelt worden zu sein.

Dabei spielen deutschsprachige Neukanadier im Kunstleben Torontos eine prominente Rolle. Der Frankfurter Herman Geiger-Torel ist Generaldirektor der Canadian Opera Co. Der Österreicher Doktor Arnold M. Walter, auch als Komponist bekannt, ist Direktor der Musikfakultät der Universität. Der Prager Walter Süsskind ist Dirigent des Toronto Symphony Orchestra. Die Wienerin Irene Jessner, einst der gefeierte Star der Metropolitan Opera, wirkt als Lehrerin im Royal Conservatory und zählt Teresa Stratas (die Tochter griechischer Einwanderer) zu ihren Schülerinnen. Walter Homburger (vormals Karlsruhe) ist Torontos erfolgreichster Impressardo. Sie und viele andere fanden in der Metropole am Ontariosee ein neues, erfolgverheißendes Wirkungsfeld.

NACH DEN NIAGARAFÄLLEN IST Torontos Casa Loma die größte Touristenattraktion der „Herzprovinz“ Ontario. Casa Loma hat hohe Türme und Zinnen. „Sieht wie eine romantische Burg des wehrhaften Mittelalters aus“ , sagen die staunenden Touristen. Casa Lomas Erbauer, Sir Henry Pellatt, war ein exzentrischer Millionär. Das Schloß am Hügel, das im Jahre 1913 vollendet wurde, sah aus Schottland importierte Steinmetze am Werk. Tore aus Bronze, Täfelungen aus englischer Eiche, Kaminfassungen aus kostbarem italienischem Marmor zeigen an, daß hier keine Kosten gescheut wurden. Doch schon geraume Zeit vor seinem Ableben konnte es sich Sir Henry nicht leisten, in dem Schloß mit den 98 Räumen und 30 Badezimmern zu leben. Heute ist Casa Loma, infolge Nichtbezahlung von Steuern, in den Besitz der Stadt übergegangen. Einkünfte aus Tanzabenden und Besichtigungen bringen nun die Mittel für die Instandhaltung auf. Zur Zeit zelten Indianer bei dem Schloß, zeigen ihre Handfertigkeit und verkaufen Souvenirs.

Was europäische Einwanderer betrifft, ist Toronto „Kanadas Magnet . Jeder vierte Neukanadier läßt sich hier nieder. Der deutsche Klub „Harmonie“ , in der Sher-bourne Street, zählt denn auch 3000 Mitglieder und hat das Aussehen eines schmucken Hotels. Der „Edelweißklub“ der Österreicher hat mehr als 1000 Mitglieder, und der Swiss Club Toronto gilt als der größte Schweizer Verein Nordamerikas.

NATÜRLICH IST HIER VIELES anders als in Europa. Der schmuckste Konzertsaal, Eatons Auditorium, befindet sich im obersten Stockwerk eines Warenhauses. Und als New Yorks Metropolitan Opera im Sportpalast Maple Leaf Gardens, der „Heimat“ des berühmten Eishockeyteams gastierte, wurde Direktor Rudolf Bing gefragt, wie ihm die Gardens als Stätte der Opernaufführungen zusage. Bing antwortete lächelnd: „Besser als Eishockeymatohes in der Metropolitan Opera...“ Eine der schönsten Kirchen — Timothy Eaton Memorial Church — ist nach dem i Begründer des riesigen Warenhauses benannt. Der größte Konzertsaal — Massey Hall — trägt den Namen der Familie, die ihren Reichtum der Erzeugung von Farmmaschinen verdankt. Ein Scherzwort kündet denn auch: „In Toronto lebt man in der Furcht vor allen Göttern — mit Ausnahme des Mammons.

Manche Einwanderer sehen hier ihre kühnsten Wünsche erfüllt. Andere sind enttäuscht — wie bei einem Goldrausch.

Hoffnung ist die Lieblingsspeise der Seele. Heute, zur Zeit der Hochkonjunktur, wird sie nicht zu oft auf dem Speisezettel des kana-t dischen Alltags gestrichen...

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