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Gesprädi im Moor

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Aber einer war nicht fortgeblieben. Er kam nicht jeden Morgen, und manchmal verging eine Woche, bis sie ihn wieder sahen. Aber dann stand er wieder am Rand des Bruches, wo sie ihm seinen Platz angewiesen hatten, so weit wie möglich von den Hütten entfernt, und den ganzen Tag sahen sie das Blitzen seines Spatens, wenn die Sonne auf das Eisen fiel. Manch-.mal ruhte er. auch für eine Weile aus, die Hände auf den Spaten gestützt, und blickte über das Moor, wie der Freiherr Amadeus odar die junge Frau .Erdrnuthe zu tun pflegten, und in den Hütten sagten sie dann lächelnd, daß er seinen Torf zähle.

Aber das tat er nun nicht. Sein ernstes, stilles, von vielen Furchen durchzogenes Gesicht war nicht das Gesicht eines Rechners. Es entspannte sich nur von der schweren Arbeit und ließ das große Schweigen der Landschaft in sich hineinfallen. Es schien dann, als habe es sich losgelöst von dem Tagewerk und sei nur da, damit die Sonne es bescheine. wie sie das Moor beschien. Es sah heiter und glücklich aus, trotz der vielen Falten, die es durchzogen. Fast wie ein Kindergesicht, das vom Spielen aufblickt, um zu sehen, wie groß die Welt ist.

Die Leute wußten nichts von ihm, als Amadeus sie fragte, und eines Abends ging er selbst hinaus, weil er wissen sollte, wer da so still in seine Welt eingekehrt war, als ob er nach Hause gekommen wäre.

Die weiche Erde machte seine Schritte lautlos, und er kam von hinten an den Mann heran, ohne daß dieser ihn hörte. Er stand wieder auf seinen Spaten gelehnt und blickte in die Ferne, und als der Freiherr ihn fast ereicht hatte, vernahm er zu seiner Verwunderung, daß der Mann leise sang. Er hatte die Hände über dem Griff des Spatens gefaltet, den Kopf auf eine Seite geneigt, und sang vor sich hin. Ohne Worte, nur die Melodie, und es war ohne Zweifel die Melodie eines Kirchenliedes. Amadeus erinnerte sich des Textes nicht, aber er erinnerte sich der Melodie, und er blieb ohne Bewegung stehen und hörte zu. Der Mann stand da wie auf einem alten Bilde, in etwas versunken, das nur vor seinen Augen lag. Man wußte nicht, ob es etwas Fröhliches oder etwas Trauriges war. Man wußte nur, daß es gleichsam etwas Gewisses war, etwas, an dem er keinen Zweifel hatte und in das er hineinsang, als ob ihm Antwort von dort kommen würde. Ein Echo der Melodie, die er summte, und mit diesem Echo auch ein Widerhall der Worte, auf die man die Melodie geschrieben hatte.

Kinder konnten so stehen, in sich versunken, und ihr halb unbewußtes Leben in den Raum hineinsingen. Es ergriff den Freiherrn Amadeus plötzlich, als hätte er seit seiner eigenen Kinderzeit so etwas nicht gesehen, und schämte sich, daß er so hinter dem Mann stand und ein Zeuge von etwas wurde, das nicht für ihn bestimmt war.

Und dann verstummte die leise Stimme, als hätte sie nun alles gesagt, Freude oder Heimweh oder Kummer, und als der Mann sich wieder zu seiner Arbeit wendete, sah er den Freiherrn hinter 6ieh. Er erschrak nicht, er lächelte nur freundlich und nickte ihm zu, als sei er ihm seit langem bekannt.

Nun, aus der Nähe, konnte Amadeus sehen, daß sein Haar schon grau war und daß das Beherrschende in seinem Gesicht nicht die Falten waren oder der Mund, sondern die Augen. Große, etwas tiefliegende, sehr ernste Augen, von einer außerordentlichen und fast beglückenden Wärme, die noch erfüllt schienen von der besonnten Landschaft, mit der er eben Zwiesprache gehalten hatte. Sie blickten den Freiherrn weder mit Verwunderung an, noch mit Scheu, sondern mit einer Art Freude des Wiedererkennens, als sei er Ihm vor langer Zeit begegnet, lange bevor er den Spaten In der Hand gehalten hatte.

Und auch seine Stimme war warm und vertraut, als er sagte, daß es ihn freue, den Herrn Baron einmal zu sehen, weil er sich wahrscheinlich nie das Herz gefaßt haben würde, ihn in seinem Schafstall aufzusuchen.

Ob er ihn denn kenne?, fragte der Freiherr verwundert.

Ja, wie sollte er ihn nicht kennen, erwiderte der Mann, da er doch im Schloß lebe, unter der Obhut des Freiherrn Erasmus. Und da er ihn fast täglich über das Moor gehen sehe, um den Abend zu finden.

„Um was zu finden?“ fragte der Freiherr.

„Den Abend, Herr Baron. Denn viele von uns gehen ja heute nur durch den Tag, um den Abend zu finden. Früher war der Abend von selbst da, wenn der Morgen da gewesen war, und man brauchte ihn nicht zu suchen. Aber heute ist nicht von selbst da. Es ist soviel verlorengegangen, daß die Menschen Angst haben, auch die Zeit könnte ihnen verlorengehen. Oder doch der Ablauf der Zeit, so daß sie nicht einmal ihres Abends sicher sind. Und dabei liegt er doch so wunderbar da, so gewiß und so für jedermann, daß man singen muß vor Freude, daß er da ist.“

Und er nahm die rechte Hand vom Spaten und beschrieb mit ihr einen Kreis über das Moor hin, als wollte er dem Freiherrn den Abend zeigen, den er entdeckt hatte.

.Sind Sie ein Vertriebener?“ fragte Amadeus endlich.

Der Mann lächelte. „Nicht mehr als andere“, erwiderte er. „Nicht mehr als jeder von uns, seitdem der Engel mit dem Schwert vor dem Tore des Paradieses gestanden hat. Nur daß den Menschen das Wort erst eingefallen ist, seitdem sie kein eigenes Dach mehr über dem Kopf haben.“

„Und Ihnen ist es früher eingefallen?“

„Viel früher, viel früher. Und deshalb ist das Dach des Lagers für mich so gut wie früher mein eigenes Dach. Vielleicht noch besser. So wie das Dach des Schafstalles für den Herrn Baron viel besser ist als das frühere Dach.“

Ob er das so genau weiß? fragte Amadeus.

„Nicht so genau, wie die meisten Menschen etwas wissen. Ihre Dienstanweisung oder ihre Weltanschauung oder daß sie recht haben und die anderen unrecht. Aber doch so ziemlich genau, wie ich weiß, daß dieses schön ist.“ Und wieder beschrieb er mit der Hand einen Bogen um das Moor.

Und was taten Sie früher?“ fragte Amadeus nach einer Weile. Ehe Sie zum zweitenmal vertrieben wurden? Was waren Sie?“

Ein Pfarrer natürlich“, erwiderte der Mann erstaunt. Was denn sonst? Haben Sie das nicht bemerkt?“

Wie er es denn bemerkt haben sollte? fragte Amadeus verwundert.

Ja, einfach so... an der Sprache zum Beispiel. Jedes Handwerk und jeder Beruf ist zu erkennen. Der Schuster an seinem Daumen und der Seemann an seinen Gang. Darin ist nichts Verächtliches, nicht einmal etwas Komisches. Und Jakob Böhme zum Beispiel war durchaus nicht komisch. Die Pastoren aber haben ihre Sprache. Das liegt an der Bibel, mit der sie sich Mühe gegeben haben. So wie ein Richter mit dem Corpus juris. Und außer der Spräche haben sie noch so eine Art von Sicherheit, die kein anderer Beruf hat. Wenn einer zu ihnen kommt und seinen Korb mit Schmerzen vor ihnen auspackt, wissen sie gleich immer etwas zu sagen. Aus dem Alten oder Neuen Testament. Vielen von ihnen ist anzumerken, daß sie mit dem lieben Gott zusammen auf der Schulbank gesessen haben. Und meistens .einen drüber', wie es in der Schulsprache heißt.“

Aber Sie haben nie einen drüber gesessen?“ fragte Amadeus.

„Ach nein, Herr Baron. Immer drunter, viele, viele drunter. Und meistens war ich der Letzte unter meinen Amtsbrüdern.“

Und jetzt?“

Der Pfarrer lächelte. Jetzt habe ich ein bißchen Ferien“, sagte er. Nicht vom lieben Gott, aber von meinem Amt. Von Gott hat man nie Ferien, das wissen Sie ja. Zuerst dachte ich, ich mißte schnell wieder eine Gemeinde bekommen. So wie Kinder denken, denen ein Rad am Wagen zerbrochen ist. Aber da, wo ich vorsprach, sahen sie mich so ein bißchen von der Seite an. Nicht von oben herab, das wäre nicht so schlimm gewesen, weil das überall so ist, wo ein Mensch über den Menschen gesetzt ist. Obwohl das in der Kirche nicht sein sollte, wo nur Christus über uns gesetzt ist. Aber von der Seite, und das ist schlimmer. Von der Seite sieht man nicht die Untergebenen an, sondern die Gefährlichen. Die außen stehen. Vor den Fenstern zum Beispiel, und dort sehen sie zu, was die drinnen treiben. Oder die Kranken oder vielmehr Krankhaften, die ihre besonderen Meinungen haben.“

„Und weshalb erschienen Sie den anderen krankhaft oder gefährlich?“ fragte Amadeus.

Der Pfarrer lächelte wieder und stopfte sich eine kurze, sehr unansehnliche Pfeife, zu der er den Tabak mit den Fingern aus der Rocktasche sammelte. .Ach“, sagte er, „ich sagte wohl so ein paar Dinge, die ihnen seltsam erschienen. ,Ich möchte irgendwohin', sagte ich, ,wo ich dienen könnte.' ,Das tun wir überall', sagte der Bischof mit einem leisen Tadel. ,Ach nein', sagte ich, ,das tun wir nicht überall. Viele haben dem Staat gedient, und viele dienen der Kirche, und einige haben dem Goldenen Kalb gedient.' Da war es denn natürlich zu Ende mit mir, und sie sagten, vorläufig sollte ich auf dem Schlosse bleiben, da gebe es schon genug zu tun.“

„Und da sind Sie nun?“ fragte Amadeus.

„Ja, da bin ich nun.“

Er stieß den Spaten in die schwarze Erde und setzte sich auf einen der trockenen Torfhaufen. „Sie müssen es mir nachsehen, Herr Baron“, sagte er, „aber ich bin müde. Dies ist uns nämlich nicht beigebracht worden auf der Universität. Dort war der liebe Gott nicht auf den Mooren zu Hause.“

„Und jetzt?“

„Jetzt ist er hier mehr zu Mause als In dem Schloß dort, Herr Baron. Es Ist ihm zu laut dort.“

„Und tun Sie das nun für sich, daß Sie hier Torf stechen?“

„Für mich? Ach nein, für mich tue ich so wenig wie möglich. Aber für die da drinnen und für den lieben Gott tue ich es. Es ist nämlich aus mit den alten Vorstellungen, Herr Baron. Sie mögen das nicht mehr, die Leute im Schloß, daß sich einer nur hinstellt und redet. Es ist soviel geredet worden, daß sie für eine Weile genug haben. Sie sind mißtrauisch geworden. Sie mögen nicht, daß ihre Pfarrer weiße Hände haben.“

„Und nun sind Sie hier“, fragte Amadeus, „um ihnen zu zeigen, daß Sie braune Hände bekommen?“

„Sicherlich“, erwiderte der Pfarrer ohne einen Augenblick des Zögerns. „ .Beten Sie draußen auf dem Moor, Herr Pfarrer?' hat mich gestern eine von den Frauen gefragt. Es war keine sehr freundliche Frage. ,Ich will so viel Torf stechen, daß eines von Ihren Kindern den Winter über nicht zu frieren braucht.' Und das ist nun auch meine Art, zu leben, Herr Baron. In zwei braunen Händen kann viel Uber-redungskraft liegen. Ja es kann sogar ein kleines Stückchen Evangelium in ihnen liegen. Die ,frohe Botschaft', wenn man es so übersetzt. Wenn die Urzeit wiedergekommen ist, kann nämlich auch so etwas wie das Urchristentum wiederkommen.“

„Und Sie meinen, daß die .Urzeit' wiedergekommen ist?“

„Sicherlich“, sagte der Pfarrer wieder. „Die Kreuzigungen jedenfalls sind wiedergekommen, und sie waren immer ein Zeichen der Urzeit.“

Der Freiherr Amadeus blickte auf das Moor hinaus, weil er sich plötzlich des geneigten Hauptes an der Kirchentür erinnerte. „Aber ist es nun nicht zu Ende mit den Kreuzigungen?“ fragte er endlich.

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. „Sie fangen erst an“, erwiderte er. „Die lauten sind vorbei, und auch die nicht einmal überall. Aber die leisen fangen erst an. Die der Heizen, nicht die der Körper... Und in solchen Zeiten dürfen die Pfarrer nicht über ihrer Gemeinde stehen, auf einer geschnitzten und erhöhten Kanzel, sondern unter ihrer Gemeinde. Sie müssen die Ärmsten sein, verstehen Sie, Herr Baron? Die Allerärmsten. Denn nur ihnen wird geglaubt werden. Nur wenn sie Torf stechen, wird an die Arbeit geglaubt werden, an die Wärme, an das Feuer. Nur wenn sie barfuß gehen, wird geglaubt werden, daß Christus barfuß ging. Nur wenn sie für Narren gehalten werden, wird an die Weisheit geglaubt werden, die vor zweitausend Jahren verkündet wurde. Anders nicht, Herr Baron, anders nicht. Auch wenn die Kirchen voll sind.“

Er klopfte die Pfeife an seiner zerrissenen Schuhsohle aus und löschte die Glut. „Ich muß gehen“, sagte er und stand auf. „Es sind ein paar Kranke da, bei denen ich noch ein bißchen sitzen muß.“

Er nahm den Spaten über die Schulter und sah sich noch einmal um. „Da ist er, der Abend“, sagte er lächelnd, „den wir gesucht haben.“

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