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Zwischenreich und Traumwelt

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Als sich die Wasser des Roten Meeres teilten, als Moses und «eine Gefolgsleute doch das jenseitige Ufer erreichen, steht ein einzelnes, verschrecktes, jüdisches Menschenkind noch vor den geöffneten Fluten. Witd es zu laufen beginnen und noch hinüberkommen, bevor sich die Wellen erneut schließen? Wird et von oder mit den ägyptischen Verfolgern vernichtet?

Als kleines Mädchen wurde sie in ein Konzentrationslager eingeliefert, zusammen mit ihrer älteren Freundin. Zusammen haben sie Jahre schlimmster Prüfung überstanden, haben gemeinsam kurz vor dem Kriegsende die Flucht gewagt und waren gerettet worden. Jahre waren inzwischen vergangen, die beiden Freundinnen waren getrennt worden. Nun stand die baldige Begegnung bevor. Wie hatte sie sich gesehnt in all diesen Jahren ihrer „Freiheit“ nach dem Rat der Älteren, die ihr beinahe eine Mutter war. Wie freute sie sich auf die gemeinsame Zeit! Sie wollte sich wiedet, ganz wie im Lager, dem Rat der Älteren unterordnen, sie wollte die Jahre, die sie allein und willenlos treibend seit Beendigung des Krieges erlebt hatte, durch die Kritik der Freundin weggewischt wissen. Sie ttäumte von der Zeit im Läget, ihre Gedanken gruben sich immer tiefer in die Erinnerung ein: als die Freundin ihr von der Bedeutung des Todes erzählte, da sie glaubten, daß auch sie abberufen werden würden. Immer mehr sehnte «ie sich nach dem energischen, lebensfesten Befehlen der Freundin. Als dann die ältere Freundin kam, aufgedonnert und auf Männerbekanntschaften erpicht, wurde dem kleinen Mädchen mit einem Schlage bewußt, daß sie jenes Menschenkind am ägyptischen Ufer des Roten Meeres war. Sie hatte den Anschluß verpaßt, und nun schlössen sich die Wogen erneut übet dem Pfad. Während die anderen weitergegangen waren, hatte sie geträumt. Von einer Zeit geträumt, die anderen ein Grauen war. Was aber bedeutete ihr die Freiheit?

Im Gegensatz zu Zofia Romanowiczowa (1922 geboren), die heute in Paris lebt, ist Wlodzimietz Odojewski (1930 geboren) einer der in Polen lebenden und die dortige Literatur anspornenden Avantgardisten • heute Leiter der Hörspielabteilung des Warschauer Rundfunks. In „Zwischenreich“ werden wir in die Gedanken- und Traumwelt eines jungen sterbenden Mannes eingeführt. Eine Stunde lang beobachten die erstarrenden Augen vom Fenster aus die Vorgänge auf der vorbeiführenden Straße. Sie sehen und «ehen nicht. Die vorbeiströmenden Menschenmassen werden zu dickflüssiger, immer näher auf den Sterbenden zukommende Lava, lösen sich dann plötzlich in die Einzelheiten des Straßenlebens auf, um «ich erneut in ein Traumbild zu verwandeln. Die Gedankenmonologe werden immer einförmiger — aber auch nichtssagender —, zäh und ohne Unterbrechung rinnen «ie auf das vermeintliche Nichts des Todes hin. Odojewskis Roman zeigt den starken Einfluß der unausgereif-ten Experimentalromane — dreißiger Jahre in England und fünfziger Jahre in Deutschland — wiedetum im Gegensatz zu dem gut durchkomponierten Roman von Zofia Romanowiczowa.

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