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Amerikanisches Experiment

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Der Vorspann zum Programmheft des vierten Konzerts der Münchner „M u s i c a Viva“: „Mit Rücksicht auf die Direktübertragung des heutigen Konzerts über den Norddeutschen Rundfunk Hamburg und auf die ungewöhnlichen Ansprüche, denen die ausübenden Künstler in den Werken des ersten Konzertteils gerecht werden müssen, wird höflichst gebeten, Zustimmung oder Ablehnung erst nach Schluß der Werke zu äußern“, muß auf das (snobistisch unterwanderte) Publikum wie Zündstoff gewirkt haben, denn kaum war der letzte Ton von Earle Browns „Available forms II (= verfügbare Formen) for orchestra, four hands“ verklungen, erhob sich ein tumultartiges Pfeif-, Pfui- und Buhkonzert. Der 1926 in Massachusetts geborene Earle Brown hat in diesem Opus den Versuch gewagt, zwei Orchester unter der Leitung von zwei Dirigenten (Bruno Maderna und Earle Brown) in improvisierter Partnerschaft einander zu konfrontieren. Brown geht darum1 ähnlich wie den Avantgardisten Kagel und Cage, die Musik aus nicht vorhersehbaren Elementen entstehen zu lassen. Dabei beschränken sich die beiden Dirigenten auf Andeutungen und Anweisungen, und es entsteht so etwas wie ein Kommando (etwas banal ausgedrückt: „Auf los geht's los.“). Wesentlich ist einzig und allein, was dabei herauskommt, ob man von einem Kunstwerk sprechen kann und ob hier neue Ausdrucksbereiche erschlossen werden. Die Frage kann nach dieser Aufführung nicht positiv beantwortet werden, denn trotz aller Achtung vor den schier unheimlichen Schwierigkeiten ist das Ergebnis mager und bleibt dem Experimentellen verhaftet.

Das wurde um so deutlicher, als mit Luigi Nonos „Sul ponte di Hiroshima — Canti di vita e d'amore“ für Sopransolo, Tenorsolo und Orchester ein Meisterwerk folgte. Nono, nur zwei Jahre jünger als Brown, hat zu einer Reife gefunden, die erstaunlich ist. Die Sensibilität seiner Tonsprache, die Mischfarbe von Cantablem und Zwölftönigem, das führt zu einer bewegenden Reizbarkeit und subtilen Empfindungswelt. Er ist ein engagierter Künstler, seine Musik klagt an, in der Bombe von Hiroshima erblickt er die Tragödie unserer Welt, hier ist eine Wunde, aus der immer noch Blut fließt, solange, bis der Tag X kommt, der den Sieg all derer bringt, die guten Willens sind. In ergreifenden Worten (Programmheft) hat sich Karl Amadeus Hartmann, der unermüdliche Initiator der Münchner „Musica Viva“, dem für das Experiment von Brown ebenso zu danken ist wie für das Meisterwerk Nonos, hinter den jungen Italiener gestellt, der an diesem Abend dem künstlerischen Triumph noch einen wesentlich bedeutenderen hinzufügen konnte — den menschlichen! Nach der Pause versammelte man sich „in memoriam Claude De-bussy“, aber trotz der großartigen Interpretation durch Bruno Maderna und den Pianisten Samson Francois blieb der Eindruck nebulos und verblaßte allzu rasch gegenüber den aufrüttelnden Werken der ersten Konzerthälfte.

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