Gebirgslandschaft im Regenbogen - © Foto: Getty Images / DeAgostini  / Dea Picture Library

Einsamkeit: Die größte Kunst

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„Praktizierende der Einsamkeit“ gibt es in allen Zeiten und Kulturen. Der britische Autor Stephen Batchelor zählt dazu – und fragt, wie das Alleinsein erfüllend gestaltet werden kann.

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„Praktizierende der Einsamkeit“ gibt es in allen Zeiten und Kulturen. Der britische Autor Stephen Batchelor zählt dazu – und fragt, wie das Alleinsein erfüllend gestaltet werden kann.

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Es beginnt, wie könnte es anders sein, in frühen Kindheitstagen. Ein kleiner Bub im ländlichen Großbritannien wird von seiner Mutter früh ins Bett geschickt – selbst an jenen Sommertagen, an denen es bis zehn Uhr abends hell bleibt. Da er nicht einschlafen kann, vertreibt er sich die Zeit mit Fantasie-Spielen: Er stellt sich vor, wie eine Spinne die Wand hinaufzuklettern und an der Decke zu hängen. Er versucht, seinen Gedankenfluss zu stoppen, oder durchsucht die Erinnerung des vergangenen Tages nach glücklichen Momenten.

„Das waren Übungen in reiner Einsamkeit“, erinnert sich Stephen Batchelor, heute 67 Jahre alt. Sie halfen ihm sehr früh, den bedrohlichen Schatten des Alleinseins zu entfliehen und die eigene Innenwelt als reichhaltige Ressource zu erschließen. Es war seine Initiation in der „Kunst, mit sich allein zu sein“, die der schottische Autor nun in seinem neuen Buch beleuchtet.

Zwischen Himmel und Hölle

Ein Werk zu diesem Thema erscheint im Corona-Jahr 2020 wie ein Volltreffer. Das freilich ist purer Zufall, denn die Episoden wurden bereits im Laufe der letzten Jahre zusammengetragen und geschrieben. Sie sind Reflexion eines Rückblicks auf mehr als vierzig Jahre, in denen sich Batchelor selbst der „Praxis der Einsamkeit“ verschrieben hat – als buddhistischer Mönch in Indien und Südkorea, später als weit gereister Autor und Künstler, der den Aufenthalt in abgelegenen Gegenden ebenso schätzt wie mehrtägige Meditations­retreats in Stille. Passend zum Projekt einer Lebensbilanz kommt Batchelor mit seinem neuen Buch auf das Thema seines ersten Werks „Alone with Others“ (1983) zurück, in dem er die zwei Pole des menschlichen Daseins aus buddhistischer und existenzialphilosophischer Sicht (Martin Heidegger, Gabriel Marcel) erkundet: immer schon in Beziehung mit anderen zu sein, zugleich aber auch stets unentrinnbar mit sich selbst alleine zu sein.

Wie Menschen diese Dimension des Daseins empfinden, ist zutiefst unterschiedlich: In einem seiner Gedichte schrieb der französische Schriftsteller Victor Hugo, dass im Begriff der Einsamkeit „die gesamte Hölle“ enthalten sei. Für seinen Zeitgenossen, den englischen Dichter William Wordsworth, hingegen bedeutete Einsamkeit „pures Glück“. Zur Frage, ob das Alleinsein nun Himmel oder Hölle ist, hatte bereits Blaise­ Pascal eine passende These parat: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“, verkündete der Naturwissenschaftler im 17. Jahrhundert – eine Weisheit, die anlässlich des Corona-Lockdowns wieder gelegentlich zu lesen war und die auch in Batchelors Buch inhärenten Anklang findet.

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