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Der Tag bricht an

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Er saß da und starrte ins Dunkel. Er konnte keinen Schlaf finden in dieser Nacht, die nun langsam zu Ende ging. Er hörte die regelmäßigen Atemzüge seiner Mitgefangenen. Fast beneidete er sie, daß sie es fertigbrachten, so seelenruhig zu schlafen, als sei nichts geschehen.

Freilich, genaugenommen war ja wirklich noch nichts geschehen. Das Schlimmste stand ihnen erst noch bevor, ihm und den drei anderen, die Pontius Pilatus derzeit eingesperrt hatte. Was bis jetzt geschehen war, war vergleichsweise harmlos gewesen. Verhört hatten sie ihn. Dabei war es eben zugegangen, wie es bei Verhören zuzugehen pflegt. Unsanft angefaßt hatten sie ihn, angebrüllt, angespuckt, ein paar Ohrfeigen, ein paar Fußtritte, aber sonst?

Bis jetzt war er im Grunde mit heiler Haut davongekommen. Erst morgen würde es ernst werden, wirklich ernst. Das Todesurteil, der Weg zur Hinrichtungs- stätte, das Annageln, die Schmerzen, die Hitze, der Durst, die Atemnot, das Ersticken. Und das alles vor einer gaffenden Menge, vor genüßlich grinsenden Zuschauern.

Jedes Kind von Jerusalem wußte, wie eine Kreuzigung abläuft. Es war ja nicht das erste Mal, daß diese grauenvolle Todesstrafe verhängt wurde. Man hatte schon oft mitansehen können, welche Qualen ein Gekreuzigter auszustehen hat; stundenlange Qualen.

Aber wo stand denn eigentlich geschrieben, daß er morgen wirk-

1 lieh“ am"Kreuz sterben würde? Noch war nichts endgültig entschieden. Vielleicht würde er mit einer Geißelung davonkommen.

Eine Geißelung wäre unter Umständen eine passende Alternative. Damit könnte sich Pilatus aus der Affäre ziehen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Der Präfekt von Judäa konnte sich schließlich selber ausrechnen, daß es nicht unbedingt das Klügste sein wür- de, gerade jetzt angesichts der angespannten Situation den Volkszorn durch Kreuzigungen zu provozieren.

Man wußte doch, wie sorgsam die Römer Jahr für Jahr ihre Truppen verstärkten, sobald die Pilger aus dem ganzen Land in die Hauptstadt zogen, um hier das Osterfest zu feiern. Vor nichts hatte die Besatzungsmacht größere Angst als davor, daß es einmal bei einer solchen Gelegenheit zum großen Aufstand kommen könnte.

Allerdings wußte man auch, daß es diesem Pontius Pilatus auf ein paar Menschenleben mehr oder weniger nicht ankam. Der würde, ohne mit der Wimper zu zucken, auch Unschuldige hinrichten lassen.

Nein, nüchtern betrachtet gab es keine Chance. Morgen, das heißt in ein paar Stunden würde sich Pontius Pilatus auf seinen Richterstuhl setzen und kurzen Prozeß machen, es sei denn…

Es sei denn, ein Wunder würde geschehen. Ein Wunder. Aber aus welchem Grund sollte denn ein Wunder geschehen?

Die Nacht war vorgerückt, der Tag begann bereits zu dämmern. Er hörte, wie in der Ferne die Hähne krähten. Die Mitgefangenen neben ihm schliefen noch immer. Sie schliefen friedlich und sorglos wie kleine Kinder.

Wahrscheinlich schliefen auch die Soldaten draußen vor der fest verriegelten Tür. An Flucht war ohnehin nicht zu denken. Aber eine Möglichkeit gab es doch noch: die Osteramnestie. Wieso hatte er nicht schon früher daran gedacht?

Es wan nicht ganz abwegig anzunehmen, Pilatus könnte auf die Idee kommen, nach alter Gewohnheit einen der Gefangenen anläßlich des Osterfestes zu begnadigen. Das wäre für den Römer vermutlich sogar die eleganteste Lösung. Aber angenommen, es würde so kommen,“ weri würde Pilatus dann freigeben? Wirklich ihn?

Während draußen die Hähne von Jerusalem immer lauter ihr Kikeriki hören ließen, betrachtete Barabbas in der immer heller werdenden Zelle seine immer noch schlafenden Mitgefangenen.

Die beiden da drüben kamen für eine Amnestie ganz bestimmt nicht in Frage. Aber dieser andere? Wenn es einigermaßen gerecht zugehen würde, müßte Pilatus diesen anderen freilassen. Denn was mit dem los war, wußte jeder. Der war zwar kein Römer freund, aber der trug auch keinen Dolch im Gewand.

Aber was sprach eigentlich dafür, daß es einigermaßen gerecht zugehen würde? Dieser andere hatte einflußreiche Feinde. Denen lag daran, ihn ans Kreuz zu befördern, und wie er sie kannte, würden sie ganz bestimmt Mittel und Wege finden, Pilatus zu zwingen, falls er selbst nicht wollte.

Mit einem Mal war wieder Hoffnung in ihm. „Wenn der da gekreuzigt wird, bin ich gerettet“, flüsterte er, und die Hähne von Jerusalem riefen Kikeriki.

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