7010220-1988_05_08.jpg
Digital In Arbeit

Die große Notenschlacht

Werbung
Werbung
Werbung

Noch ehe der Dirigent den Taktstock gehoben hat, weiß das Orchester, ob es mit ihm wird leben können. Für den Zuhörer verhält sich das anders. Er ist bereit, sich der Musik hinzugeben, aber er muß vorher einen Zustand von Sammlung erworben haben, dem die Zerstreuung am besten dienlich ist: er sieht zuerst den Dirigenten an. Wie wird er den Einsatz geben, wie das Pianissimo meistern?

Er ist ein neuer Mann, der zur heutigen Matinee im festlichen Anzug das Podium betreten hat, ängstlich, wie es scheint, vor dem anspruchsvollen Orchester, und ernst vor seiner verantwortungsvollen Aufgabe. Die Noten füllen sein Gehirn, er muß darin die Klarinette wie das Fagott, die Harfe wie den Baßgeiger unterbringen und darf darüber nicht den Duktus der Komposition vergessen. Er hat keine Partitur mit, was ehrenvoll und mühsam ist.

Wie sieht er eigentlich aus, der bedeutende Mann? Wie ein junger Delikatessenhändler. Er mustert seine Waren, bietet seine Assortiments manierlich an, dann spitzt er die Lippen und zupft aus dem ersten Geiger ein zweigestrichenes C heraus.

Aber es mundet nicht; angeekelt wirft er es wieder von sich. Das ist ein Vergnügen, das ist eine wahre Duftorgie. Leider stören die angriffslustigen Trompeter den Genuß. Sie bekommen geschwind eine auf den Deckel und huschen erschrocken davon. Jetzt aber, siehe da! Ein schneidender Schmerz fährt dem Mann durch den Leib, er leidet herzzerreißend, denn das süße Holz ist ihm in die Seite gefahren. Viel zuviel Holz, die Hälfte, nein, eine Messerspitze davon, eine Spur von einer Idee!

Oh, das tat weh, aber schon reitet von den Bässen eine Entzückung daher, die immer brausender und immer beglük-kender wird, bis ein paar harte Nackenschläge der Pauke ihr ein Ende setzen. Punktum, basta. Es wollen doch die Geigen zu schluchzen beginnen. Auch sik-kert lieblicher Zymbelton durch das Gebälk, und nun bläst ein Sturm durch die Instrumente, der auch den letzten Zuschauer wegfegt und zu einem hingerissenen Zuhörer macht. Die Welt wird nicht mehr lange stehen, wenn es so weitergeht. Ein Glück nur, daß der jähe Blitz einer Tschinelle der stürmischen Verzauberung Einhalt tut. Nun aber marschieren die Schwerbewaffneten mit gewaltigem Tritt auf. Der Dirigent traut ihnen nicht, er späht mit eingezogenen Blicken zu ihnen hin, wehrt mit ersterbender Geste den rohen Landsknechten und möchte lieber heute als morgen im Erdboden versunken sein. Entsetzen zeichnet seine Mienen, er stirbt mit aschfahlen Wangen, verblüht, verwelkt rapide, unterliegt einem ergreifenden Herzkrampf — als ihn ein Schlag von links trifft, zu sich bringt und mit Gladiatorenmut den anmarschierenden Bataillonen entgegenschreiten heißt. Vielmehr, er bleibt stehen, statt umzusinken, wie er es vorhatte, er beherrscht das Feld, das Pult, er sendet Zeusblitze, und schließlich nach einem Aufkrächzen der Violinen wirft er sich, Sieger und Besiegter in einem, der Zukunft in die Arme.

In monumentalen Zweivierteltakten schreitet sie heran, er an der Spitze, sie immer vorneweg, so triumphierend ziehen sie ein, während das Podium erzittert. Jetzt ist es soweit. Ein Aufschrei der Oboen, ein Magenriß, der von den Geigen brutal und vollendet gekonnt ausgeführt wird. Aber der da oben schüttelt alles ab, winkt und gebietet. Und weiß in der Tat noch aus den letzten Winkeln des Orchesters klagende Schreie hervorzulocken, die in einem Taumel von Siegeslust und Blutdurst untergehen und Mann und Maus unter sich begraben. Das ist der Tag, wo der Feldherr mit genäßter Stirn das Chaos mit einem einzigen Streich zum Schweigen schlägt.

Eine Ruhe, wie sie über dem Schlachtfeld liegt, herrscht über den Brettern, eine befehlshaberische, göttliche Ruhe, in die nah und immer näher das Prasseln von Gewehrsalven, wollte sagen Applaus, dringt, der sich bald mit Hochrufen steigert und den Dirigenten zur Kehrtwendung zwingt —demf ublikum zu, den Zuhörern zu. Uns aber, die wir einen Podiumssitz innehatten, weist er den markig durchtrainierten Rücken, der alle weiteren Piecen tatkräftig zu überleben verspricht. Alsbald erhebt sich hinter ihm das überwundene Orchester, müde und froh.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung