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Digital In Arbeit

Die Mühlen Gottes

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An jenem Tag hatte ich es sehr . eilig, in die Speisekammer zu kommen. Ich hatte Hunger.

Sonst habe ich es nie eilig. Seit ich Rentner bin, habe ich Zeit. Die Umstellung auf das Zeithaben war schwer.

Als Journalist hat man nie Zeit. Das gehört geradezu zum Beruf, das Wichtignehmen und Keine-Zeit- Haben.

Ich war mit Leib und Seele Journalist Fünf Jahrzehnte lang. Lokale Berichterstattung (in einer Stadt wie der unseren ist immer was los), Schwerpunkt Gerichtswesen. Unwesen, spotteten meine Freunde, aber das hat mich nicht gestört.

Eigenbrötler, spotteten sie und später: Hagestolz.

Ich hätte zum Heiraten gar keine Zeit gehabt. Immer auf Achse: Presse hört, sieht, weiß alles.

Ab und zu mal eine Freundin.

Ich bin emanzipiert und besorge meinen Haushalt selbst.

Übrigens hätte ich es mir durchaus leisten können, in einem eigenen Haus im Villenviertel zu wohnen.

Was soll ich da? Den Katzen und Hunden gute Nacht sagen? Die singen auch in der Stadt. Diesen Mai war es wieder ganz schlimm. Jetzt wird es besser.

Das nächste Polizeirevier ist im Nachbarwohnblock. Die würden sich Umsehen, wenn sie mich nicht mehr hätten.

Hört, sieht, weiß alles. In unserem Revier herrscht Ordnung. Keine Sandler im Park, keine Diebstähle in den Großmärkten. Ich bin wachsam bei meinen Einkäufen und Spaziergängen. Man kennt mich.

Was nicht korrekt ist, wird zur Anzeige gebracht.

Un-nach-sich-tig.

Durch das angelehnte Fenster mit der Scheibengardine sehe ich gegenüber die W. auf dem Dachgarten. Sie nimmt Wäsche ab, schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Der Hof, der uns trennt, ist nicht groß. Ich wohne vom, zur Straße, sie im Hinterhaus. Ich wohne im obersten Stock, sie im Parterre. Seit ihr Sohn und die Schwiegertochter im Auto verunglückt sind, hat sie die fünf Kinder. Vier gehen zur Schule, das fünfte hängt der W. immer an der Schürze. Vier Jahre alt, ein Mädchen, dick, schlitzäugig, mit ruppigem Haar und einer Hautfarbe wie Asche. Kein Kind nach meinem Geschmack. Nach ihrem? Das weiß man nicht.

Aus der Wohnung riecht es immer nach Kohl. Meistens schreien und streiten die Kinder, oder die Großmutter schreit. Man hört das bis in den Hof. Manche Mieter haben sich schon beschwert.

Es ist sehr heiß. Das Kind hängt an der Schürze der Großmutter. Die W. ist klein und stämmig, mit raschen Bewegungen. Man sieht diesen Typus oft in unserer Stadt. Wenden und Zigeuner, eine undefinierbare Rasse.

Das Gesicht der W. ist weiß gedunsen und ohne Ausdruck. Auch die kleinen schwarzen Augen sagen gar nichts.

Trotz der schnellen Bewegungen, mit denen sie die Wäsche abnimmt, das karierte Bettzeug und die geflickten Handtücher, scheint ihr das alles viel zu viel zu werden. Sie schüttelt das Kind ab, das auf allen Vieren wieder zu ihr hinkriecht Es hat nur ein Hemd an. Es greift nach der Schürze der Großmutter, die es wieder abschüttelt. Das Kind steht auf, fängt an zu schreien, läuft nach vom an den Rand des Dachgartens, der ungesichert ist. Die Großmutter holt es zurück, setzt es unsanft neben den Waschkorb.

Das Kind hört nicht auf zu schreien, läuft wieder an den Rand des Dachgartens. Die Großmutter holt es dreimal zurück, schimpft laut, während mich eine unerklärliche Erregung befällt.

Die W. nimmt die letzten Wäschestücke ab, die kleinsten sind fast nur Fetzen. Als sie sich umdreht,

steht das Kind wieder vom am Rand des Dachgartens. Die W. legt die Fetzen zuoberst auf den Waschkorb, geht langsam zu dem Kind, das nicht mehr schreit, stumm dasteht und sich nicht rührt. Die W. sagt laut: „Weg aus der blöden Welt“ und gibt dem Kind einen Stoß. Ihr Gesicht und ihre Stimme sind imbewegt. In diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, als wäre ich innen hohl und das Kind stürze durch mich hindurch, Ewigkeiten lang.

Der Aufschlag beendete das Gefühl. Die W. hatte sich umgedreht, den Waschkorb hochgewuchtet und war gegangen.

Wenn ich mich beeilte, konnte ich schneller bei der Polizei sein als sie in ihrer Wohnung.

Ich sah auf die Uhr: 14.13

Ich hetzte die Treppen hinunter, ließ die Haustür hinter mir offen, ging langsamer, überlegte.

„Die vier großen W“: Wann, Wer, Wo, Wie. Es gibt Journalisten, auch Redakteure, die auf das fünfte W pochen: Warum.

Vor dem Polizeirevier blieb ich stehen. Meine Meldung war perfekt:

„Am Freitag, 11. Juni, 14.13 Uhr, stieß die verwitwete W. ihre vierjährige Enkeltochter…“

Weiter kam ich nicht.

Ich drehte mich um imd ging langsam nach Hause, verzichtete auf den Lift, ging die vielen Treppen nach oben.

Am anderen Morgen stand es in der Zeitung. „Durch einen tragischen Unglücksfall stürzte die vierj ährige Enkeltochter der verwitweten W. um die Mittagszeit des 11. Juni vom Dachgarten des Hauses Königsdamm 125 in den Hof. Das Kind war sofort tot.“

Ich traf die W. noch am gleichen Tag und sprach ihr mein Beileid aus. Ihr weißes gedunsenes Gesicht war unverändert.

War es ein Zufall oder richtete ich es so ein, daß ich sie in der nächsten Zeit immer öfter traf? Und inte ich mich oder veränderte sie sich im Laufe des nächsten Jahres?

Sonst konnte sich in ihrem Leben nicht viel verändert haben. EinEsser weniger. Aber das Gekreisch und Geschrei aus der Wohnung war immer das gleiche. Auch der Kohlgeruch.

Die W. bekam in den beiden folgenden Jahren ein neues Gesicht. Es wurde aufmerksamer, wachsam, mißtrauisch, verstockt, mitunter hochmütig, überlegen. Sie hängte ihre Wäsche noch immer mit den gleichen resolutenBewegungen auf,

nahm sie mit der gleichen Entschiedenheit ab, kein Kind mehr am Schürzenzipfel. Mitunter verschwand sie mit ihrem Waschkorb wie im Triumph.

Ich sah ihr durch das Fenster der Speisekammer zu.

Sah sie mich?

Ich beobachtete, wie sie sich auf die Spur kam. Nach zwei Jahren hatte die W. sich auf erschreckende Weise verändert, war mager und faltig geworden, hatte fahrige Bewegungen und eine kaum hörbare Stimme.

Auch ich hatte mich anscheinend verändert.

„Alter Knabe“, spotteten meine Freunde, „du kommst in die Jahre. “

Noch ein Jahr, ein drittes, da hatte die W. sich eingeholt Ich sah sie springen, von derselben Stelle, von der sie das Kind gestoßen hatte.

Es war genau drei Jahre später. Auch die Uhrzeit war die gleiche. Diesmal hatte ich nicht das Gefühl, innen hohl zu sein als Schacht für einen Stürzenden.

Ich war ganz ruhig. Der Aufschlag löste eine ungeheure Erschöpfung in mir aus, von der ich mich noch nicht erholt habe.

Am anderen Morgen stand es in der Zeitung.

„Durch einen tragischen Unglücksfall…“

In meinem Alter ist man nicht mehr sehr flexibel. Man hat seine Gewohnheiten, lästige und liebgewordene, die man schwer ablegt Trotzdem werde ich mich nach einer neuen Wohnung in einem anderen Stadtteil umsehen.

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