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Ein labiler Charakter

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In dem Haus, wo Reinitz wohnte, wußte fast niemand seinen Namen. Die paar Mieter, die ihn flüchtig kannten und ihn als leidenschaftslos, verschlossen und scheu einschätzten, hielten ihn für einen Detektiv. In Wirklichkeit arbeitete er als Reporter, genauer gesagt, war er früher Reporter gewesen, denn in den letzten Jahren hatte er viel Alkohol getrunken und hatte seinen Posten verloren. So schrieb er nur fallweise für die Zeitungen; hin und wieder betätigte er sich auch als Kinobilleteur. Er kannte die finsteren Seiten des Lebens, die Jagd nach aufregenden Berichten hatte ihn mit den merkwürdigsten Menschentypen zusammengebracht; oft war er unangemeldet als Gast bei Totenfeiern, Begräbnissen oder Gerichtsverhandlungen aufgetaucht.

An diesem Abend läutete mitten in der Nacht das Telefon. Er hob nicht ab. Der Anrufer war zäh und versuchte es noch ein paarmal. Da entschloß sich der verärgerte Reinitz abzuheben.

„Herr Reinitz, Sie kennen mich. Ich bin's, der Paul Bernauer. Sie erinnern sich bestimmt noch an mich. Ich weiß nicht, wo ich diese Nacht schlafen soll. Kann ich bei Ihnen schlafen? Ich bin eben aus dem ... Sie verstehn mich bestimmt. Ihnen kann ich das ruhig sagen. Heute früh bin ich rausgekommen.

Meine Eltern wollen nichts von mir wissen ...”

„Komm einfach her, wir werden schon eine Lösung finden”, sagte Reinitz.

Er erinnerte sich gut an den rothaarigen Burschen. Irgendeine kurze Strafe, nicht der Rede wert. Ein labiler Charakter wie andere Jugendliche auch. Nicht der Rede wert. Reinitz zog über seinen Pyjama einen dicken Mantel und stapfte die Treppen hinunter, um das Haustor aufzusperren. Dann beeilte er sich - es war sehr kalt -, um in seine Wohnung zu kommen. Er öffnete den Schrank, wo er Bargeld und Sparbücher aufbewahrt hatte tmd versteckte sie zwischen seinen vielen Büchern. Diese Vorsichtsmaßnahme kam ihm selbst etwas lächerlich vor.

Nach einer Viertelstunde erschien der Bursche. Er trug eine braune Kunstlederjacke, er hatte keinerlei Gepäck und machte ein trauriges Gesicht. Man mußte kein Hellseher sein, um mit einem einzigen Blick sofort seine Lage zu erfassen: völlig auf sich allein gestellt, keinen Groschen Geld, keine Freunde und Bekannten.

Reinitz ging in die Küche, holte eine Flasche Schnaps und schenkte dem späten Gast ein Gläschen ein. Dann spendierte sich auch Reinitz ein Gläschen und sank mißmutig in seinen Biedermeiersessel zurück. Reinitz hatte Angst, er hatte plötzlich Angst, obwohl er früher in solchen Situationen überhaupt keine Angst gehabt hatte. Reinitz ließ sich sein Unbehagen nicht anmerken, und mit gönnerhaftem Lächeln bot er dem Burschen ein zweites Gläschen Schnaps an. Reinitz dachte, daß es am besten sei, eine autoritäre Position einzunehmen und es zu keinerlei Vertraulichkeiten kommen zu lassen. Er war in seinem ganzen Leben nicht vorsichtig gewesen; jetzt dachte er daran, daß es vielleicht verborgene Gründe geben könnte, doch vorsichtig zu sein.

„Hast du Hunger?” fragte Reinitz.

Der Bursche nickte.

Reinitz ging in die Küche und brachte auf einem Teller Wurst, Käse und Brot. Der Bursche war gehörig ausgehungert.

Dann bereitete Reinitz die Couch im Wohnzimmer, und Bernauer legte sich schlafen.

Am Morgen machte Reinitz für zwei Personen ein Frühstück und lud auch Bernauer dazu ein.

„Ich rufe am Abend an, ob ich ein Quartier gefunden habe. Wenn alles schiefgeht, darf ich wieder kommen, Herr Reinitz?”

Reinitz nickte gleichgültig.

Am Abend kam Bernauer schon sehr früh zu Reinitz, der gerade schweren Kaffee und Süßigkeiten genoß. Ohne Umschweife beteiligte sich Bernauer an der Mahlzeit. Bernauer bot jäh ein Bild der Lebensfreude. Er nahm sich aus dem Bücherschrank ein Buch, legte sich zu Bett und schaltete leise das Radio ein.

Nächsten Morgen ging Bernauer trällernd ins Badezimmer, rasierte sich mit dem Rasierzeug von Reinitz und rieb sich mit wohlduftendem Gesichtswasser die Haut ein.

Am liebsten hätte Reinitz seinem Gast gütlich zugeredet, etwa so: „Benütze meine Sachen, iß dich satt, ich werde dir Eier mit Schinken machen, ich werde dir auch Geld geben, aber suche dir schleunigst eine andere Unterkunft. Und wenn es nicht sofort klappt, schlafe eben einstweilen in einem Waggon am Westbahnhof!”

Aber Reinitz blieb stumm sitzen und wartete, was geschehen würde,

„Ich verschwinde jetzt, besten Dank”, sagte Bernauer und schritt zur Tür.

Reinitz atmete auf, endlich würde er diesen ungebetenen Gast los sein. Da fiel ihm auf, daß ein gelber Pullover von Bernauer auf der Couch lag.

„Du hast deinen Pullover vergessen!”

„Nein, ich habe ihn dagelassen. Ich komme am Abend wieder”, sagte Bernauer lässig und schwindelte sich zur Tür hinaus.

Als Bernauer am Abend kam, sagte Reinitz entschlossen: „Du wirst verstehn, daß der momentane Zustand nicht so weitergehen kann. Wenn du hier bleiben willst, mußt du von heute an im Keller schlafen. Ich weiß, das klingt im ersten Moment schrecklich. Ist es aber nicht. Im Keller befinden sich riesige Rohre von der Zentralheizung, es ist sehr warm und du brauchst nicht zu frieren.”

„Ich bin nicht anspruchsvoll. Ich hab schon schlimmer übernachtet, Sie brauchen mit mir keine Geschichten machen. Ich schlaf überall. Ich schlaf auch auf dem Teppich.”

„Du wirst im Keller gut schlafen. Auf dem Gang steht ein altes Bett, das kannst du benützen. Und jetzt werde ich dir ein paar Sachen herrichten.”

Reinitz füllte in eine Thermosflasche heißen Tee und steckte in ein Plastik-säckchen Orangen. Er sagte: „Im Keller ist eine verdammt trockene Luft, du wirst Durst bekommen, deshalb richte ich dir etwas zusammen.”

„Ich will Ihnen überhaupt keine Scherereien machen”, wehrte Bernauer ab und nahm widerwillig die angebotenen Sachen.

„Du machst mir keine Scherereien!”

„Muß ich gleich in den Keller oder kann ich mir im Fernsehen noch die Sportserdung anschauen?”

„Setz dich her!”

Reinitz öffnete eine Flasche Wein und sagte: „Wenn's dir recht ist, kannst du mittrinken.”

„Danke, ich hab schon lange keinen Wein mehr getrunken.”

Im Fernsehen wurden gerade die Tagesereignisse gebracht. Man sah auf dem Bildschirm die Szenen eines Raubüberfalls in der Innenstadt. Man hatte den Bankräuber nicht erwischt.

„Tolle Sache”, sagte Bernauer.

„Ja, so muß man es machen! Aber du wirst nie ein richtiger Verbrecher werden. Du bist zu weich. Ein richtiger Verbrecher muß brutal sein. Du mußt fähig sein, einer alten Rentnerin wegen einem Hunderter den Schädel einzuschlagen. Man muß brutal sein oder unheimlich viel Hirn haben. Hirn haben aber die wenigsten. Deshalb geschieht auch so viel mit Gewalt. Wenn du ein Verbrecher werden willst, rate ich dir zu Gewalt. Am besten aber, du gehst zu deinen Eltern heim und söhnst dich mit ihnen aus. Sie werden dir bestimmt ver-zeihn. Wenn du willst, ruf ich bei euch zuhaus an und leg ein Wort für dich ein. Du kannst mir zutrauen, daß ich etwas erreiche!”

„Bitte nicht!” flehte Bernauer. Und dann sagte er: „Ich will kein Verbrecher werden. Das ist nicht mein Fall. Ich werde zu arbeiten anfangen und ein ganz normales Leben führen.”

„Ist in Ordnung. Ich kann mir für dich auch nichts anderes vorstellen.”

Es wurde noch eine zweite Flasche Wein geöffnet.

Gegen elf stapften die beiden in den Keller hinab; Reinitz hatte eine dicke Zierkerze mitgenommen, um mit einem Zusatzlicht ausgerüstet zu sein.

Bernauer schlief nach dieser Nacht noch viele weitere Wochen im Keller. Vielleicht hätte er noch viel länger den Kellerraum als Nachtquartier benützt, wenn nicht eines Tages die Hausmeisterin den Schlafenden entdeckt hätte. Sie war sehr empört und verständigte die Polizei. Diese nahm zwar den unterstandlosen Bernauer mit und verhörte ihn im Wachzimmer, aber es konnte ihm nichts Ungesetzliches bewiesen werden.

Am selben Tag kaufte Bernauer im Supermarkt ein paar Flaschen Gin, Whisky und kehrte zu Reinitz zurück.

Reinitz sagte lachend: „Mein Stammgast ist wieder hier. Nun, wie stellst du dir vor, wie es weitergehn wird?!”

Da packte Bernauer eine Gin-Flasche und schlug auf Reinitz' Kopf ein. Reinitz starb, ohne daß er ein weiteres Wort gesprochen hatte.

Bernauer wohnte noch etliche Wochen in der Wohnung von Reinitz und verschwand dann im Ausland, wo er bald wegen Zechprellerei aufgegriffen wurde. Im Zuge der polizeilichen Erhebungen gestand er die Tat an Reinitz.

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