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Gesten für Gäste

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Die alte Briefmarke trug den österreichischen Doppeladler. Aber die Wertangabe lautete „15 centesimi“, nicht „5 Kreuzer“. Der Stempel „PADOVA 16/9“ sagte auch wieso: Damals, 1850, stand Venetien unter der Herrschaft der Habsburger.

Fünfzehn Kilometer südlich von Padua, näher als Baden an Wien, sprudeln die heißen Quellen aus den Euganeischen Bergen, in denen vor bald zweitausend Jahren Tiberius und Theoderich Heilung von Zipperlein und Gicht suchten; die Thermen, deren Heilkraft Livius und Plutarch besangen. Heute sind sie die Grundlage für eine blühende Hotellerie in Abano und Montegrotto, die den Älteren aus Österreich Linderung ihrer altersbedingten Leiden verspricht und bundesdeutschen Managern Heilung ihrer Streßfolgen.

Für Italiens Markensammler beginnt die Frühzeit ihrer Philatelie mit dem österreichischen Doppeladler, ohne daß die in der

Vergangenheit lebhaften Ressentiments daran rütteln konnten. In Montegrotto sind — zumindest heute — solche Ressentiments überhaupt unbekannt.

Es ist nicht selbstverständlich, ' daß Ressentiments nach hundertvierzig, nach hundertzwanzig oder auch nach nur siebzig Jahren überwunden sind. Im Jahr vor jenen Adlermarken hatte Feldmarschall Radetzky den Aufstand der Italiener niedergeschlagen. 1866 war Venetien trotz der Niederlage der Italiener bei Custozza vom Kaiser in Wien zum König in Turin übergewechselt

Erst siebzig Jahre ist es her, daß Österreich-Ungarn nach elf Isön-zoschlachten aufgeben mußte -aber in dem damals so umkämpften Friaul wird heute noch der Geburtstag des Kaisers Franz Joseph als Volksfest begangen.

Der 4. November, Tag des Waffenstillstands, galt auch am 70. Jahrestag als Staatsfeiertag *-aber Nachkommen der Krieger von einst trafen einander in Görz, um der Opfer beider Länder zu gedenken.

Wirkte die österreichische Vergangenheit nach, als in den fünfzig Jahren zwischen Napoleon und Risorgimento „dank strenger Gesetze und guter Verwaltung (wie der „Neue Euganeische Führer“ betont) die Thermen von Montegrotto einen neuen Aufschwung erlebten“? Oder ist es nur der geringen Entfernung nach Innsbruck, Graz und Wien zu verdanken? Jedenfalls führen in den Fremdenlisten Österreicher vor Deutschen; Schweizer und Italiener streiten um den dritten Platz.

Deutsch dominiert im Speisesaal und an den Piscinen. In der sonntäglichen Pfarrmesse gibt es deutsche Lesungen und Fürbitten. Und auf dem Wochenmarkt werden neben den üblichen Schuhen und Pullovern auch strahlend eloxierte Gedenkmedaillen mit den Köpfen Adolf Hitlers, Benito Mussolinis und Palmiro Togliat-tis (des italienischen Kommuni-, stenführers der fünfziger Jahre) angeboten. Ist man offen für alle? Der Anblick wirkt befremdlich.

Man weiß jedenfalls auch Gesten zu schätzen, nicht nur Gäste.

Am 26. Oktober hängt die rotweiß-rote Fahne groß neben den Fähnchen aller vertretenen Nationen an der Rezeption. Im Speisesaal schmücken kleine Flaggen in den Nationalfarben die Tische der Österreicher. Das Abendessen ist als Festessen deklariert.

Ein Klavierspieler klimpert Schlager der dreißiger und fünfziger Jahre, gemäß den Jahrgängen der Kurgäste, zwischendurch zur Feier des Tages Lehar und Strauß. Bis er aussetzt und Musik vom Tonband aus dem Lautsprecher kommt.

Undeutlich zunächst im Stimmengewirr, dann klarer: die Bundeshymne. Wie reagieren die Gäste? Die ersten stehen auf, andere folgen. Ehe noch die Mozartweise, deren Text zu Hause nur die Schulkinder können, in die Endpassagen geht, stehen sie alle, Österreicher wie Deutsche, Schweizer wie Italiener. Sie geben der Hymne die Ehre.

Erst dann folgt der Höhepunkt des Banketts, die Eistorte nach Art des Hauses — ist es Schleichwerbung, wenn man dieses Haus— Antoniano Terme — hier namentlich erwähnt?

Es war sicher nicht leicht, aus dem kaiserlichen Venetien in das königliche Italien zu wechseln, über 1918 und 1939 und 1945 in die Repubblica, in der die Hymne des Nachbarn nicht nur bei Staatsbesuchen ertönt, sondern auch im Hotelspeisesaal am Nationalfeiertag. Der Augenblick ist wohl ein gutes Omen für ein neues Europa.

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