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Im Maß der Zeit

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Schnee fällt auf die Häupter meiner Freunde, die älteren aber beginnen gar aus dem Kreis zu treten, heute und gestern und morgen hör ich von einem, dem die Bürde letzter Verantwortung auferlegt wurde - wie sie Unzählbare auf sich genommen haben, gern oder ungewollt, schnell oder in langen Nächten. Immer wieder ficht es mich an: dem Guten doch ein Wort der Anteilnahme zu sagen; als vermöchten seine geschlossenen Augen die bläulichen Lider zu durchblicken, als wäre er unter uns und bedauerte den, der seines Namens war. Ich spreche noch mit ihm, da läßt er mich stumm stehen. Aber die Tage sind doch schön, ein jeder ein persönliches Wunder; der eine im triefenden Nebel, der ausdrucksvoll von den Ecken des Gartenhauses tropft, der andere im stoßenden, gewaltigen Licht; es schwelt der Vormittag empor, die Mitte des Tages läßt sich krönen, breit ruht die Zeit zwischen Lust und Dämmerung. Wenn der Abend mit schmalen Schläfen sich über die getane Arbeit beugt und die um und um gespindelte Seele zu sich selber einkehrt, dann dankt der Mensch seinem Schöpfer; sanft steigt die Lilie der Nacht ins Dunkel, leuchtet dem Sehenden, lindert den Erhitzten. Ist dennoch keine Helligkeit zu finden, so nehmen wir uns die angebrochene Zeit, vertreiben sie, vernichten sie, weil wir nicht allein sein können, ohne zu weinen.

Wir ziehen ein Netz hinter uns her mit den Fischen der vergangenen Tage, holen diesen von ihnen heraus und werfen jenen achtlos beiseite. Uns Kindern erschien jeder einzelne großgewachsen und perlmuttern, mancher hatte goldene und silberne Flossen, sie glitzerten von den Wassern der Ewigkeit und schienen uns für später Ungeheuerliches, Großartiges zu versprechen.

Endlich besehen wir uns das Netz, welches so sehr schwer geworden ist — aber nicht von der Größe, nur von der Masse der Tage. Was einst zu erringen möglich schien, ist längst zu erhoffen unmöglich geworden. Selten noch blitzen die Leiber, es mehren sich die düstern, die trüben Schuppen, aber dazwischen funkelt doch ein Kleinod, oft .sehr bescheiden, oft von einer strahlenden Behutsamkeit.

Die einen von uns schwingen sich preisend über ihren Fang auf, die anderen haben ihre Unsterblichkeit in sterblichen Erben verankert, nur wir, die nichts erworben und nicht gezeugt haben, sind allein. Oh, ruft der eine aus, mir ist's genug geschenkt, daß hundert Nächte lang mein Ohr Frauenherzen schlagen hörte. Ach, laßt's hinreichend sein, was ich am Mitmenschen leiden durfte, sagt der zweite. Ein jeder schleppt sein Netz, mit sich, und mancher ist auch jetzt noch voll reinen Glaubens und voll trächtiger Trauer. Alle sind beschenkt worden, und jeder hat das genommen, was ihm begehrenswert erschienen ist.

Je älter wir werden, um so mehr behalten wir recht. Das zerstörte Gebäude der Jugend liegt hinter uns, auf einsamen Wegen meinen wir zu einer einsamen Höhle zu gelangen. Wir wollten den Weg stürmen, aber wir begnügten uns mit der Wanderung. Freundlich blickt eine Tanne zu uns nieder, in ihren Ästen wiegen sich Tiere, die wir unterscheiden gelernt haben, die dicken Zapfen weisen auf die Wiederkehr hin. Die Tanne ist hochgewachsen, aber nicht makellos. Man müßte ihr Zweige einfügen, sollte sie der Forderung nach Ebenmaß nachkommen, man müßte sie aufbessern, verhüllen, den krummen Kronenzipfel zurechtbiegen. Lassen wir sie in ihrem natürlichen Frieden. Freuen wir uns des Harzgeruchs, der nur im Vorübergehen den Wanderer erreicht.

Dann freilich spürten wir sie stetiger als jetzt, dann würde ihr schlanker Wuchs dem zeitlichen Maß entzogen sein. Ach, denken wir, und es überfüllt uns, daß wir aufschäumen und quellen, unser Fall wird ähnlich sein, dem zeitlichen Maß entzogen, der Hochtracht entkleidet, einfach und bar. Wir werden unsere Häupter beugen, um ja und ja Undenkbarem an schneeiger Weiße, an triumphaler Glorie, an Strahlenschein ausgesetzt zu sein; dem, was wir nie ersehnt und nur in Augenblik-ken der Entrückung träumerisch geglaubt haben. Der Morgen folgt auf den Tag und auf die Erfahrung die Einfalt.

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