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Nicht in einem Eiskeller

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Unter dem Pontifikat des jetzigen Papstes wurde erstmals in der Geschichte der Kirche im großen Ausmaß von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, ausgeweihte katholische Priester von ihren priesterlichen Pflichten zu dispensieren. “Jeder Kenner des Kirchenrechtes weiß, daß formalrechtlich dies ohne weiteres möglich ist, aber ebenso weiß jeder Kenner der Kirchengeschichte, daß von diesem Recht bisher so gut wie kein Gebrauch gemacht wurde. Das Pontifikat des Papstes ist von zwei wesentlichen Zügen gezeichnet: zunächst von dem Bemühen, den Frieden in der Welt zu retten oder wiederherzustellen. Gleichbedeutend daneben steht das große seelsorgliche Anliegen dieses Papstes, den Menschen das Christentum nahezubringen und zu ermöglichen. Aus diesem Grund heraus dispensierte er gleich zu Beginn seines Pontifikates eine große Anzahl von Priestern, die ihr Priestertum schon vor längerer Zeit verlassen hatten und in Ehen lebten, die natürlich nicht gültig waren. Durch diese großzügige Geste wurden viele Mensehen aus einer bis dahin qualvollen seelischen Lage befreit, die an sich kaum noch zu ändern gewesen wäre, denn keiner dieser Priester, die ihr Priestertum verlassen hatten, wären zu diesem zurückgekehrt. Aber während des ganzen Pontiflkats Pauls VI. dispensiert dieser Papst immer wieder Priester und Ordensleute von ihren Verpflichtungen, die schwerwiegende Gründe vorbringen können, aus denen hervorgeht, daß sie die übernommenen Pflichten nicht mehr erfüllen können.

Aus Pressemeldungen konnte man den Eindruck gewinnen, daß die Zahl jener Priester, die um Dispens von ihren Verpflichtungen ansuchten, immer größer wurde, daß sich fast eine Sturzflut anzubahnen schien. Dies ist allerdings nur ein äußerlicher Eindruck. In der Zeit vom 1. Jänner 1963 bis zum 20. März 1969 haben von den 260.000 Weltpriestern 3563 um Dispens von ihren priesterlichen Pflichten angesucht, das sind 1,28 Prozent. Von den 165.000 Ordenspriestern haben im gleichen Zeitraum 3807 um Dispens angesucht, das sind 2,31 Prozent. Im mitteleuropäischen Raum, in Deutschland, Österreich und der Schweiz, lag der Prozentsatz noch unter dem Weltdurchschnitt. In den Jahren nach 1969 dürften sich die Verhältnisse kaum geändert haben, so daß rund 1 bis 2 Prozent der Priester jeweils angesucht haben, von Ihren Verpflichtungen entbunden zu werden.

„Nur“ ein bis zwei Prozent. Aber ist es nicht angesichts der herrschenden Priesternot schade um jeden Priester, der sein Priestertum verläßt, und wäre in den meisten Fällen nicht dieser Schritt zu vermeiden gewesen? Denn jeder, der das Priestertum oder das Ordensleben auf sich nimmt, hat viel mehr Zeit, zu entscheiden, ob dieses Leben für ihn möglich sein wird oder nicht, als es zum Beispiel jemand hat, der die Ehe auf sich nimmt.

Wer näher untersucht, aus welchen Gründen alle diese Männer ihr Priestertum verließen, wird auf die Tatsache stoßen, daß es so gut wie niemals Glaubenszweifel waren. Wer an seine Kirche nicht mehr glaubt, dem ist auch eine Dispens uninteressant, der verläßt auch ohne Dispens sein Priestertum. Es ist im Gegenteil immer ein zutiefst menschliches Problem, das fast alle diese um Dispens Ansuchenden zu diesem Schritt bewegt. Und zweifellos ist nicht das Zölibat der Hauptgrund, warum die meisten ihr Priestertum verlassen. Der Hauptgrund ist fast immer die große menschliche Einsamkeit, in der viele Priester heute, und insbesondere auch die jungen, leben müssen. Eine Einsamkeit, die schon bei den rein menschlichen Lebensbedingungen anfängt. Viele haben niemanden, der sich um ihr tägliches Leben kümmert, um ihre Wohnung, ihr Essen, ihre Kleidung. Viele von ihnen haben niemanden, mit dem sie ein menschliches Wort sprechen können. In dieser verzweifelten Einsamkeit gewinnen dann viele Priester die Uberzeugung, daß sie diese überwinden könnten, wenn sie heiraten würden. Die Ehe erscheint ihnen in einem verklärten Licht und sie gewinnen die Uberzeugung, daß mit der Aufhebung des Zölibates ihre schreckliche Einsamkeit überwunden wäre. Da aber das Priestertum mit dem Zölibat verbunden blieb — und hoffentlich bleiben wird —, verlassen sie lieber beides und suchen um Ehedispens an, anstatt zu versuchen, der Einsamkeit Herr zu werden. In rührender Weise nimmt sich heute die Kirche dieser ehemaligen Priester an, und meistens gelingt es, sie in irgendwelchen kirchlichen Organisationen oder als Religionslehrer unterzubringen. Aber vielleicht wäre es zu diesem Schritt bei vielen gar nicht gekommen, wenn die Fürsorge für sie schon früher eingesetzt hätte und Formen geschaffen würden, die den Priestern die Möglichkeit geben, der Einsamkeit Herr zu werden. Nicht nur ein Kind braucht eine Nestwärme, sondern auch ein erwachsener Mensch kann nicht in einem Eiskeller leben. Auch ein Priester nicht, wenn es natürlich auch Ausnahmen gab und gibt. Aber nicht jeder Priester ist eine Pfarrer-von-Ars-Figur. Ich war vor kurzem im Kloster der Herz-Jesu-Priester in Wien eingeladen, und da entdeckte ich, daß jedes Ordensmitglied eine kleine Wohnung sein eigen nennt, die aus einem kleinen Schlafzimmer und einem kleinen Arbeitszimmer, einem eigenen Waschraum und Vorzimmer besteht. Es gab einen gemeinsamen Lesesaal, ein gemeinsames Eßzimmer usw. Jeder konnte sein eigenes Leben führen und fühlte sich doch in einer Gemeinschaft geborgen. Oft wurde über den Lebensstil der österreichischen Stifte die Nase gerümpft. Aber sie haben in erstaunlicher Weise die Krisen der heutigen Kirche durchgestanden, vielleicht gerade wegen dieses ihres Lebensstils. Denn in diesen Stiften hat jedes Mitglied das Gefühl, nicht nur eine Nummer, sondern auch ein Miteigentümer und Mitbesitzer zu sein, wo er sein individuelles Leben führen kann und von einer Gemeinschaft getragen wird, deren Geschick er mitbestimmt. Vielleicht wäre es möglich, auch für Weltpriester ähnliche Gemeinschaften zu schaffen. Vielleicht sollte eine neue Form der alten Kollegiatkapitel wiedererstehen. Die heutigen Verkehrsmöglichkeiten gestatten es, daß nicht jeder Priester in seiner Pfarre wohnen muß. Jedenfalls — es sollte alles getan werden, um die schreckliche Einsamkeit aus dem Leben der Priester zu verbannen. Dann werden die Ansuchen um Dispens auch nicht jenes Ausmaß annehmen, daß sie eine echte Belastung werden.

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