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Telefonate in Dosen
Mit jeder neuen Woge, die im Herbst oder Frühjahr über unseren Buchhandel hereinbricht, sind auch sie reichlich vertreten: die Bände, in denen berühmte -Leute ihren Briefwechsel vor aller Öffentlichkeit ausbreiten.
Der Mann von der Straße darf - gegen eine geringe Gebühr - teilhaben an Gedanken, die gar nicht für ihn bestimmt waren, denn sonst stünden sie ja nicht in einem Privatschreiben, sondern in einem literarischen Opus. Diesen Publikationen haftet ein wenig vom Blick durchs Schlüsselloch an, ähnlich der Veröffentlichung von Tagebüchern. Hier schreiben große Männer an große Männer, wenn es nicht ganz reicht, auch an kleine Männer, wenn es hochkommt hingegen an Frauen. Wir aber dürfen sagen, wir seien dabeigewesen.
Briefwechsel, die wirklich bedeutendes literarisches (philosophisches,
wissenschaftliches, politisches) Material enthalten, sind nicht gar häufig. Von ihnen allein kann die Branche oder dieser stille Nebenzweig, diese Sub-Branche, nicht leben. Es geschieht wohl hin und wieder, daß etwa ein so emsiger Briefeschreiber wie Joseph Roth das ganze Drama seines Zugrundegehens, seines jammervollen Sich-zu-Tode-Trinkens in seinen Episteln spiegelt. Bei anderen müssen wir uns mit Auseinandersetzungen über Tantiemen und Vorschüsse begnügen, ohne daß gleich ein menschliches Drama dahinterstünde.
Ohne Zweifel hat die Post an diesen Briefen weniger verdient als der Verlagsbuchhandel. Man kann etwa Hofmannsthals Briefpartner so bequem in kleine Portionen zerlegen, daß jedes Jahr ein neuer Band herausschaut. Ein Rarissimum ist hingegen ein Briefwechsel, bei dem einer schreibt und der andere fast nie antwortet. Schnitzlers Korrespondenz mit dem immer anderswo beschäftigten Max Reinhardt ist ein Beispiel dafür. Gewiß hätte der große Regisseur die Arbeit des Briefebeantwortens nicht bloß seinen Direktoren und Subdirektoren überlassen, hätte er gewußt, daß dies alles dereinst zwischen zwei feisten Buchdeckeln vorgelegt werden soll und aus seiner Feder dann zumeist nur Telegramme dabei sind.
Sei dem wie immer: Briefwechsel nähren ihren Mann, auch wenn sie nicht immer Wechsel auf die Unsterblichkeit sind. Als Leser genießen wir auch nach Jahrzehnten noch gerne einen Hinweis, wo man einen guten Rotwein zu kaufen kriegt oder welches, inzwischen längst abgerissene Hotel irgendeinmal empfehlenswert war.
Alles in allem sollte man meinen': ein blühender Industriezweig! Aber leider ist der Wurm darin. Solange noch ein abbaufähiger Fundus älterer Korrespondenzen zur Verfügung steht, braucht die Branche nicht zu darben. Was aber soll morgen geschehen? Es läßt sich nicht leugnen, daß immer weniger Briefe geschrieben werden, selbst von bedeutenden Männern, die immer auch ihre gesammelten Werke nebst Briefwechsel im Auge behalten. Was noch Hofmannsthal der „Correspondenzkarte“ oder dem Rohrpostbrief anvertraute, wird heute telefoniert. Er nannte das neumodische schwarze Kästchen noch „das indiskreteste Instrument“, aber der emsigen Wiener Journalistin Berta Zuk- kerkandl empfahl bereits Schnitzler, sie möge doch einmal ihr „Telephon- Tagebuch“ . herausgeben - was sie schließlich auch getan hat. Heute ist selbst diese Entwicklung längst überholt. Der Dramatiker und sein Regisseur, der Lyriker und sein Verleger vertrauen dem Telefon an, was früher einmal in schriftlicher Form das Fundament für spätere Briefbände geliefert hätte.
Sollen künftige Generationen davon ausgeschlossen werden, wenn unsere Parade-Dichter die letzte Feile an ihre Spesenrechnung legen? Soll die Öffentlichkeit nie davon erfahren, wenn unsere Großen sich die Seele darüber zergrübeln, ob sie nicht vielleicht doch hätten liechtensteinische Staatsbürger werden sollen? Selbst die Umsetzung von literarischen Erfolgen in Investment-Zertifikate sollte der Nachwelt nicht verlorengehen.
Wer einigen Sinn dafür hat, diese Nebenprodukte des künstlerischen Schaffens halbwegs marktgerecht zu verwerten, muß da wohl bei seinen Ferngesprächen ein Tonband mitlaufen lassen. Und wenn wir auch künftig nicht mehr mit dicken Bänden voller indiskreter Briefe rechnen können, werden uns vielleicht Telefonate in Dosen dafür entschädigen.
Wo der Buchhandel resignieren muß, wird vielleicht die Schallplatten- industrie in die Bresche springen. Man könnte sich etwa einen weihnachtlichen Verkaufsschlager vorstellen: Karajans gesammelte Telefongespräche, eine goldene Geschenkkassette mit fünf Langspielplatten mindestens. Hier ist noch ein weites Feld zu beackern. Die Öffentlichkeit, die sich angesichts der allgemeinen Unlust am Briefeschreiben bereits hoffnungslos ausgeschlossen sah, braucht nicht zu bangen.
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