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Töchterlein kurst

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Es fing ganz harmlos an: Milli, 17, sanft, ordentlich und kein bißchen vergammelt, beschließt, sommers einen Sprachkurs im Urlande zu absolvieren. So weit, so gut. Wir dachten an Bilbao, Barcelona, eventuell noch an Madrid — sie an den tiefsten Süden! Natürlich verstand sie es blen-

dend, auch Väterchen zu überzeugen: „Weißt Du, nur da unten ist noch alles so ursprünglich ..."

Eine stattliche Summe wechselte von unserer Urlaubskasse zu irgendeiner klangvollen Adresse, der Flug wurde gebucht. Wie vom Zielflughafen aus das Kursparadies erreichbar sei, wußte niemand so recht. Man konnte nur mittels Zirkel auf der Landkarte feststellen, daß es sich zirka vier Omnibusstunden entfernt in den wilden Bergen der Sierra befand ...

Im Morgengrauen hob das Kind ab, uns mit gemischten Gefühlen zurücklassend. Ihr heiteres: „Ich ruf gleich an!" war uns Gewißheit. Der Tag verging mit Aufräumungsarbeiten des von ihr hinter-lassenen Chaos.

Am Abend waren wir bei Freunden eingeladen. „Habt Ihr schon Nachricht von Eurer Milli?" Bedrücktes Nein unsererseits. „Also, unser Wolferl hat gleich angerufen, wie sie in Venedig angekommen sind!" (Unterton: aber bei Eurer Erziehung ... ) „Also, Melitta meldete sich sofort von Heathrow, als sie nach London flog!" — Dieses „Also" — warum stellen die Pharisäer immer dieses Wörtchen vor, wenn sie, in sicherer Loge genießend, Blut in der Arena wittern?

Das Grillfest zieht sich in die Länge, ich habe keinen Appetit... sie hat doch die Nummer unserer Freunde, weiß, wo wir sind ... sie könnte doch ...

Wir verabschieden uns als erste. Vor dem Einschlafen dreh ich noch die Kurznachrichten auf: kein Flugzeugabsturz, Gott sei Dank! Nachts scheuchen mich Alpträume auf. Gegen 3 Uhr klingelt das Telefon — irgend so ein Idiot will den Sumpfwirt ganz

dringend sprechen ...

Beim Frühstück fragt mein Mann, ob man denn „dort" nicht anrufen könne. „Ich hab keine Nummer", muß ich kleinlaut zugeben. Er schaut mich vernichtend an: „Ich dachte, Du hättest Dich um alles gekümmert!" Das Frühstück endet als Stummfilm, auch zu Mittag sind Hunger und Unterhaltung minimal. Jedesmal, wenn das Telefon läutet, fahren alle hoch — Milli ist es nie.

Im Laufe des Nachmittags beginnt auch der Optimismus der beiden Buben abzubröckeln. Hatte der Ältere in der Früh noch gefeixt: „Die dürre Bohne frißt kein Scheich!", brütet er jetzt finster über einer Nordafrikakarte, während der Kleine die Figuren in Millis Setzkasten dreht, ohne auf das Pfeifen der Spezis zum Fet-zenlabl-Match zu reagieren.

Die anfallende Hausarbeit erledige ich zerstreut, Staubsaugen entfällt: Es könnte ein Klingeln übertönen. Die Gedanken kreisen nur mehr um das eine: Lieber Gott, laß es nicht wahr sein ... Ich verspreche die waghalsigsten Wallfahrten, lege Gelübde ab, die dem strengsten Orden zur Ehre gereicht hätten.

Am Abend bricht der Angststau endlich los: „Wie konntest Du nur zulassen, daß das Kind wohin fährt, wo es nicht einmal telefonisch erreichbar ist! Wer sagt Dir denn, daß sie nicht schon längst

nach Tanger verschoben ist... "

Mein mühsam zurückgehaltener Tränenstrom quillt: All diese Schreckensvisionen hatten sich doch schon längst auch in mein Hirn eingefressen: Milli, unser fröhliches, kleines Mädchen, gefesselt, geknebelt, mißbraucht und was noch alles — in einem dumpfen Schiffsrumpf, in finsteren Spelunken...

Die Vorwürfe hageln, die hinzugekommene Oma macht die Sache nicht besser: „Also, ein Mädchen alleine zu diesen feurigen Männern..." Meinen Einwand, der Kurs würde von einer älteren Dame organisiert, wischt sie weg, als spräche ich von einer Puffmutter. Schließlich mache ich mich zur nächsten Wachstube auf. „Sie können dieses tun, jenes versuchen und dorthin telefonieren", meint der Freund und Helfer, nachdem er meinem Schluchzbericht den Tatbestand entnommen hat.

Wieder daheim, beginnt das große Anrufen. Es dauert zirka eine Stunde, dann haben wir die Nummer des Senor Bürgermeisters — Polizei scheint der friedliche Ort nicht nötig zu haben. Große Abstimmung, ob man ihn um ein Uhr nachts noch stören könne oder nicht — da klingelt das Telefon: „Hallo! Milli da! Wie geht's Euch? Hier ist's prima! Gestern gab's eine riesige Begrüßungsfete .. und .. und .. und ..."

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