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Weißdorn, wetterfest

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Ich war schon einmal hiergewesen, sechs Jahre mag es her sein. Es war gerade die Ubergangszeit: Aus Utters war kurz zuvor Illiers-Combray geworden. Ein unglaublicher Vorgang, vielleicht gibt's so was wirklich nur in Frankreich: Eine Stadt nimmt offiziell den Namen an, den ihr ein Dichter in seinem Werk gegeben hat.

Hier hat Marcel Proust in Kindheitstagen seine Ferien zugebracht, und als er Jahrzehnte später, sein Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" entwerfend, die Erinnerung an jene frühen Sommer herbeibeschwört, nennt er den Schauplatz des Geschehens Com-bray. Getreulich fugt er Detail zu Detail: das Haus der Tante, bei der der Knabe einquartiert gewesen, die Straßen und Plätze des Städtchens, Kirche, Fluß und Wiese, Garten und Park. Das Bild, das er in seinem Gedächtnis bewahrt hat, bleibt unangetastet, er nimmt nichts weg, gibt nichts hinzu. Nur den Namen verändert er, macht aus Illiers Combray.

Die Proustianer von Illiers fühlen sich durch die Namensergänzung geehrt, sie möchten es dem Dichter danken, daß er auf solche Weise ihre Stadt verewigt hat, und so lassen sie nicht eher locker, als bis auch die letzte Staatsinstanz ihrem Antrag zugestimmt hat: Illiers möge fortan, Marcel Proust zu Ehren, Illiers-Combray genannt werden. Die Sache geht durch, Ortseinfahrt und Bahnhof erhalten neue Schilder, die Bürger von Illiers, auch die der Literatur weniger zugetanen, müssen umdenken, Monsieur Launay, der Drucker vom Ort, macht das Geschäft seines Lebens.

Damals, in der Ubergangsphase, war ich das erstemal dort: Ich wollte mit eigenen Augen sehen, wie so etwas funktioniert. Es funktionierte schlecht, der neue Name setzte sich nur gegen mancherlei Widerstand durch, Proust ist kein Heimatdichter. Wie hätte man in diesem Provinznest von dreieinhalbtausend Spießerseelen auch so rasch vergessen sollen, schrieb ich damals, was für ein Ungeheuer jener Marcel Proust gewesen ist? Ein Muttersöhnchen, ein Hypochonder, ein Snob und was alles noch! Wie um Himmels willen sollte der örtliche Geflügel-händler zu der Einsicht gebracht werden, seine Poularden, seit Jahr und Tag unumstrittene Hervorbringungen von Illiers, kämen fortan aus Iüiers-Combray?

Einzige Ausnahme: der Konditor. Monsieur Benoist, dessen Laden schräg gegenüber dem Hauptportal der Pfarrkirche die Place du Marche beherrscht, schaltete blitzartig: Spielte nicht in der „Recherche du temps perdu" ein ganz bestimmtes Backwerk eine Schlüsselrolle - jene legendäre „Madeleine", die das Ferienkind Marcel im Haus der Tante, deren eigenem Beispiel folgend, in den traditionellen Lindenblütentee getunkt und die dem Dichter, zwanzig Jahre später, schlagartig die verschüttet geglaubte Erinnerung an die Tage der Kindheit wiedergeschenkt hatte? Wäre es nicht ein sinniger Beitrag zum sich anbahnenden Proust-Kult von Illiers-Combray, das alte Rezept aufs neue zu beleben? Natürlich - nun erinnerte man sich auch: War es denn nicht wiederholt vorgekommen, daß Besucher von auswärts sich in Monsieur Benoists Laden verstohlen umgeblickt, ja der eine und andere Mutige sich sogar ein Herz gefaßt und ohne Umschweife nach „Madeleines" gefragt hatte? Ließe sich da nicht geradezu eine Marktlücke schließen? Monsieur Benoist schloß sie, und er schloß sie mit Gewinn. Seine „Madeleines proustien-nes", im Schaufenster seines Konditorladens weithin sichtbar präsentiert, wurden zum selbstverständlichen Mitbringsel eines jeden Proust-Pilgers, der fortan in die Ortschaft kam.

Illiers-Combray scheint der Typ von Ort zu sein, wo das Zurücktauchen in die Welt der Kindheitserinnerungen besonders gut gelingt. Damals, vor sechs Jahren, habe ich meine Chance genützt. Und doch: Da fehlte etwas. Es fehlte der Weißdorn. Der Zeitpunkt meines Besuchs war nicht mit der gebotenen Sorgfalt, war viel zu willkürlich gewählt: irgendwann unterm Jahr. Monsieur Larcher, der Oberpriester des örtlichen Proust-Kults, hoch in den Acht-

zigern und schon zu gebrechlich, selber noch die Führung zu übernehmen, gab mir zu verstehen, dies könne selbstverständlich nur ein Anfang sein, der wahre Proust-Pilger komme zur Weißdornblüte nach Illiers-Combray, nirgendwann sonst. Zweite Hälfte Mai. Die Herren von der „Societe des Amis de Marcel Proust" drückten mir eine Einladung mit dem genauen Datum in die Hand, und nun las ich es schwarz auf weiß: Erster Samstag der zweiten Maihälfte

- Proust-Wallfahrt zu den Weißdornhecken im Catelan-Park zu Illiers-Combray.

In Le Mans wechsle ich den Zug. Der Expreß führe ohne weiteren Halt bis Paris durch: Ich brauche den Postzug nach Chartres. Ein kalter Wind bläst mir um die Ohren, es ist entschieden zu frisch für die Jahreszeit. In Chartres, beim Umsteigen in die Lokalbahn nach Illiers-Combray, hole ich den Mantel aus dem Koffer: Erstmals wird mir beim Gedanken an die Weißdornblüte bange. So ein fixes Datum, ohne jede Rücksichtnahme auf die Launen der Natur

- ist das nicht eine verdammt riskante Sache? Weiße Weihnachten -nun gut, damit haben wir uns abgefunden: daß sie nur selten weiß sind.

Aber eine Weißdornwallfahrt ohne Weißdorn? Ängstlich blicke'ich aus dem Zugfenster, und was ich sehe, macht mich hur noch ängstlicher: Selbst die Knospen des Jasmins sind noch fest verschlossen. Ob sie wohl mit Chemie nachhelfen werden, die pelerinage des aub6pines zu retten? Oder mit künstlicher Bestrahlung -Proust unter der Höhensonne?

Ankunft in Illiers-Combray, nur wenige steigen aus dem Zug. Der alte Herr im cutähnlichen Festgewand ist aufs höchste proustverdächtig, desgleichen die junge Dame mit den theatralischen Gebärden. Auch das Herrenpaar mit den zierlichen Handtäschchen ist mir nicht geheuer - der lässige Wochenendausflüglerlook will ihnen nicht so recht vom Gesicht.

An der table d'höte im Hotel de la Gare mache ich weitere Proustianer aus: Pilzsammler und Sportfischer sehen anders aus. An eine offene Diskussion ihrer Absichten ist gleichwohl nicht zu denken: Jeder hält auf strikte Absonderung, man peilt Ecktische an, Nischen, Entlegenes. Noch zwei Stunden - dann droht der Augenblick der Wahrheit: Um 3, so lese ich auf meiner Einladung, ist allgemeines Treffen in der „Maison de Tante Leonie". Des kleinen Marcel Feriendomizil, heute ein Museum, zugleich der Sitz der „Societe des Amis de Marcel Proust".

Ich spaziere durch den Ort. Er hat sich kaum verändert. Der Doppelname ist mittlerweile allgemein durchgesetzt, die Proust-Postkarten haben ein besseres Papier, und Monsieur Benoist hat Konkurrenz bekommen: Seitdem auch der Konditor um die Ecke die legendären „Made-leines"in sein Angebotaufgenommen hat (mit dem Hinweis, hier habe sie einst die „Tante Leonie" gekauft), preist er die seinen als „les vraies des vraies", als die „einzig echten" an, und die Nummer drei im Bunde, die es unter ihrer Würde findet, bei sol-

chem Wettstreit mitzutun, wirft überhaupt eine Neuschöpfung auf den Markt, für die sie, was immer sich in den betreffenden Konfektschachteln an Genüssen verbergen mag, den gewagten Namen „Proustilles" ersonnen hat

Die Zahl der Proust-Verdächtigen nimmt weiter zu: Eine Gruppe Japaner, die sich zu poetischem Picknick auf einer Wiese niedergelassen haben, großhütige Damen, die sich auf stillen Parkbänken in das bevorstehende Ereignis einlesen, studentische Beflissenheit und professorale Würde - aber noch immer alles auf Distanz, jeder für sich. Kaum ein Auto: Proustianer sind Bahnfahrer. Kaum eine Kamera: Proustianer sind Tagebuchschreiber. Kaum ein lautes Wort: Proustianer sind in sich gekehrt.

Etwas vor drei finde ich mich am verabredeten Ort ein, das Haus ist bereits voller Gäste, auch der Garten. Nun sehe ich sie alle wieder, ich habe mich nicht getäuscht. Hie und da ein scheues Zeichen des Wiedererkennens, ein Lächeln zaghafter Kumpanei. Bis alle beisammen sind und zur gemeinsamen pelerinage aufgebrochen wird, vergehen Minuten gespannter Erwartung. Die Dame vom Organisationskomitee teilt eine kleine Schrift aus: „Marcel Proust und die Magie von Combray". Ich überbrücke die Wartezeit, indem ich in dem Zwölfseitenheft blättere -gleich der erste Satz geht das Thema massiv an: „Wer den tiefen und dunklen Sinn des Romans ,Auf der Suche nach der verlorenen Zeit' erfassen will, muß, noch bevor er ihn zu lesen anfängt, einen Tag einem Besuch in Illiers-Combray widmen." Selbst wir Proust-Pilger sind uns darin einig, daß da der gute alte Monsieur Lar-

cher, Autor des Heftchens und mittlerweile verstorbener Promotor des Combray-Kults, wohl doch um eine Spur zu weit geht.

Unsere Prozession setzt sich in Bewegung. Ein paar Schritte ortsauswärts die Rue Saint Hi-laire, dann über das Loire-Brücklein, schließlich die Rue des Vierges entlang - schon ist „Swanns Park" erreicht, jenes verträumte Gartenparadies aus Rasenhügeln und Blumenbeeten, aus Teichen und Stegen, aus Grotten und Vogelhäusern, dem Prousts Onkel, der Monsieur Amiot, den' eigentümlichen Namen „Pre Ca-telan" gegeben hat und dessen Weißdornpfad, diese „unaufhörliche Folge von Kapellen, die unter dem Schmuck der wie auf Altären dargebotenen Blüten verschwanden", unser Ziel ist.

„Ihr Duft strömte sich so voll und überquellend aus, wie ich ihn vor dem Altar der Muttergottes stehend verspürt hatte, und die ebenso geschmückten Blüten trugen eine jede mit gleicher gedankenloser Miene ihr schimmerndes Strahlenbündel aus Staubgefäßen, feine glitzernde Rippen im spätgotischen Stil wie die, die in der Kirche das Gitter der Empore durchzogen oder die Kreuze der Buntglasfenster."

Für die Proust-Pilger von Illiers-Combray das Allerheiligste, der Hochaltar. Hier erfüllt sich für sie der Mythos - ob der verflixte Weißdorn nun blüht oder nicht.

Und er blüht nicht - ich habe es geahnt.

Aber ob sie den Mangel überhaupt wahrnehmen? Ob er für sie nicht dennoch blüht? Blüht und blüht und seinen Duft verströmt?

Der Dichter selber leistet ihnen, die zu sehen begehren, was eine nachhinkende Natur ihnen an diesem Mai-Wochenende zu sehen verweigert, jede erdenkliche Hilfe: „Ich kehrte zu dem Weißdorn zurück wie zu einem Kunstwerk, von dem man meint, man werde es besser sehen, wenn man es inzwischen einen Augenblick nicht angeschaut hat."

Wozu also es anschauen, um es zu sehen?

Das Kameraauge hat an dieser Stätte ohnehin nichts verloren, und im übrigen bin ich gar nicht so sicher, ob die Bilder, die ein Proustianer hier schösse, die er einem Proustianer zum Entwickeln gäbe und die er einem Proustianer schließlich unter die Nase hielte, nicht wahrhaftig von Weißdornblüten übergingen. Denn ich habe in ihre Gesichter geblickt: Es waren die Gesichter derer, die das Wunder geschaut haben.

Was aber den Film betrifft, den ich selber bei der pelerinage des aubepines geknipst habe, so werde ich ihn wohl vernichten müssen. Denn - dürfen Prousts Weißdornhecken so unter die Leute kommen: mit Lautsprechern behängt? Muß das die Welt wissen: daß die Herren von der „Societe" mit Elektronik nachhelfen? Daß die Weißdornzitate, die den Proust-Pilger auf seinem Weg begleiten, vom Tonband kommen, aus der Konserve, Knopfdruck genügt?

Und was, wenn es ihnen eines Tages einfiele, auch die Weißdornblüten in Auftrag zu geben - etwa bei einer Kunstblumenfabrik in Lyon? Die Sache läßt sich bestimmt bewerkstelligen: Weißdorn aus Polyäthylen, haltbar und abwaschbar, umweltfreundlich und wetterfest. Und zum ganzjährigen Gebrauch.

Mit dem Zittern ums Maiwetter hätte es dann jedenfalls ein Ende.

Allerdings auch mit dem Geist von Marcel Proust.

(Aus „Die irdischen Götter." Das neue Buch des Autors erscheint demnächst bei Langen-Müüer, München.)

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