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Zeitensprünge

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Man kann sie von früh bis spät im schönen Wiener Stadtpark gehen sehen, ohne daß sie sich auch nur einen Meter von der Stelle bewegt. Sie steht, und geht doch, und wenn sie steht, dann geht sie nicht. Mit einem Wort, es ist die Normaluhr. Wenn sie aber läuft, dann geht sie auch; geht und läuft in einem.

Alle ihre Zifferblätter zeigen weltoffen in eine andere Windrichtung, und das drückt sich auch in den Zeiten aus, die sie angeben. Der Osten bleibt ein wenig zurück, hingegen geht der Westen vor, fortwährend vor, man weiß nur nicht, gegen wen, und der Erfolg ist auch gering genug — ein paar Teilstriche, die Unruhe in die Welt bringen. Vergebens sucht der Süden auszugleichen.

Es bleibt eine Spannung zwischen den Zifferblättern bestehen, die den Norden dazu bewogen hat, das Rennen überhaupt aufzugeben: Das Nordzeigerpaar zieht es vor, gar nicht erst zu starten. Es steht; bei Regen und Wind und auch im Sonnenschein. Nur gelegentlich packt es ein hektischer Rausch, die Zeiger holpern unbeholfen über die Ackerfurchen der Zeit und holen alles Verlorene wieder auf. Der Normalzeitverbraucher aber irrt verzweifelt unter den feindlichen Zifferblättern umher. Er traut seiner eigenen Normalität nicht mehr. Soeben war es doch halb zehn, schon ist es elf vorbei, und nun, wahrhaftig, wo er noch einmal umgekehrt ist und die Uhr auf der anderen Seite passiert, schlägt's gar dreizehn. Sollte man, stöhnt er, am Ende Zeit gewinnen können, indem man sie mit dem Umkreisen dieser Uhr verliert?

Die Uhr geht schon richtig, nur muß man ihren Daseinszweck berücksichtigen. Wozu dient sie? Die Zeit anzuzeigen? Nun denn, wer wollte denn die Zeit von einer Normaluhr ablesen? Dafür gibt es bessere Quellen. Ich nenne das Radio, die am Himmel strahlende Sonne oder die regelmäßigen Ankunftszeiten der Busse. Nein, die Normaluhr geht und steht nur da, damit sich unter ihr die Paare treffen können, und da nun einmal immer einer von den beiden zu spät kommt — ich sage nicht: der schönere Teil —, so hat er die Chance, sich auf das retardierende Zifferblatt zu berufen. Heikle Situationen wie ein solches Zuspätkommen meistert man am besten, indem man sie umgeht. Und wenn man um die Normaluhr herumgeht und ihrer originellen Zeitweisheit ansichtig wird, dann ist am Ende die Verstimmung schon verflogen.

Die Stadtverwaltung hat ihr väterliches Interesse daran, daß die Paare beieinander bleiben. Darum hat sie der Normaluhr einen anomalen Gang geben müssen — sofern nicht, was kluge Absicht scheint, am Ende gar nur gewöhnliche Schlamperei ist.

Denn die Schlamperei treibt ja gleich nebenan, bei der Postbehörde, verdächtige Blüten. Der Postkasten dort am Parkeingang wird abends zum letztenmal um halb sieben geleert, sooft man aber um sieben Uhr an ihm vorbeikommt, ist er noch nicht ausgenommen worden; nur, wenn es einem einfallen sollte, einen eiligen Brief geschwind noch einwerfen zu wollen, dann ist der flinke Postwagen inzwischen justament dagewesen. Ist das nun eine Ordnung oder nicht? Und die Morgenpost, auch Frühpost genannt?

In Sommerszeiten, auch wenn sie noch so kühl sind, trifft die euphorisch Benannte gegen Mittag, ja am frühen Nachmittag ein—wenn überhaupt... Trifft sie dann am nächsten Tag doch ein, ist sie zwar die heutige, aber eigentlich die gestrige, vielleicht sollte man sie prophylaktisch für die morgige nehmen. Wo uns doch die Zeit heute immer schneller durch die Finger schlüpft.

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