TddL2021_Pedretti - © Foto: Imago / Manfred Siebinger

Bachmannpreis: Erica Pedretti - Heimatlosigkeit als existenzielle Erfahrung

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Erica Pedretti wurde 1984 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet. Teil 4 einer Serie mit Preisträger(innen)-Porträts anlässlich der 45. Tage der deutschsprachigen Literatur, die im Juni 2021 stattfinden werden.

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Erica Pedretti wurde 1984 mit dem Bachmann-Preis ausgezeichnet. Teil 4 einer Serie mit Preisträger(innen)-Porträts anlässlich der 45. Tage der deutschsprachigen Literatur, die im Juni 2021 stattfinden werden.

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Es war kein schlechtes Jahr, als sich 1984 Erica Pedretti im Bewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis durchsetzte. Sie verwies Josef Haslinger und Michael Köhlmeier, Evelyn Schlag und Eva Schmidt auf die Plätze abseits der großen medialen Wahrnehmung. Dass Jörg Fauser eine Totalabfuhr erfuhr, geht Michael Köhlmeier bis heute nach.

Pedretti, damals 54 Jahre alt, war keine Unbekannte. Drei Romane hatte sie im wichtigsten Literaturverlag der Zeit, bei Suhrkamp, bereits veröffentlicht, ein Erzählband sollte erscheinen. Wer heute von der Schweizer Gegenwartsliteratur spricht, darf von Erica Pedretti nicht schweigen. Mit sechs Romanen, einem Erzählband und Erinnerungsprosa ist ihr Werk überschaubar, was ihrer zweiten Tätigkeit neben dem Schreiben geschuldet ist: Als Objektkünstlerin ist sie nicht weniger anerkannt denn als Schriftstellerin.

Ihr Leben, vielfach zerrissen durch die politischen Umstände, in die eine 1930 in Mähren Geborene geworfen wurde, liefert Stoff für ihr Werk. Die Familie wurde „zwangsausgesiedelt“, das fünfzehnjährige Mädchen kam über Verwandte in die Schweiz, emigrierte, nachdem die Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert worden war, in die USA, um zwei Jahre später für die Heirat mit dem Künstler Gian Pedretti in die Schweiz zurückzukehren. Dass das literarische Werk unter den Zeichen von Heimatlosigkeit, Zwang und Unrast steht, leuchtet ein. Das betrifft das Nachdenken über die eigene Biografie ebenso wie sie diese Spuren der existenziellen Bedrohung auch in fremden Leben ausmacht. Ständige Ortswechsel bildeten den Grundton der Kindheit: „Kaum ein Schuljahr konnte ich dort beenden, wo ich es angefangen hatte,“ gab sie in ihrer Selbstdarstellung für die Deutsche Akademie preis, „so habe ich die Völkerwanderung etwa dreimal durchgenommen, anderes nie, die Berliner waren mir ein Jahr in Englisch voraus, das dort fehlende Latein versuchte ich fürs Hohenstädter Gymnasium in den Sommerferien nachzuholen.“

In ihrem Siegertext „Das Modell und sein Maler“ nahm sie sich eine Schweizer Ikone vor – Ferdinand Hodler. Der hatte den Verfall und das Sterben seiner Geliebten akribisch in zahlreichen Skizzen festgehalten, sie ist in ihrer Erkrankung dem künstlerischen Willen des Malers ausgeliefert. Vorgelesen hatte Pedretti eine Vorstufe des sich allmählich zu einem Roman auswachsenden kühnen Projekts „Valerie oder Das unerzogene Auge“. Das lineare Erzählen, das Folgerichtigkeit eines Lebenslaufs vorschützt, hat sie sich abgewöhnt. Das würde eine Harmonie erzeugen, die in der Erfahrung des Einzelnen keinen Raum hat. Die Bewunderung für diese Autorin hat über die Jahre keine Abstriche erfahren. Appell an Suhrkamp: Bücher von solcher Qualität sollte ein Verlag, der auf Tradition schaut, vorrätig halten.

Die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur mit der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises werden vom 16. bis 20. Juni 2021 im ORF-Theater im ORF-Landesstudio in Klagenfurt stattfinden und auf 3sat live übertragen. Jury: Mara Delius, Vea Kaiser, Klaus Kastberger, FURCHE-Feuilletonchefin Brigitte Schwens-Harrant, Philipp Tingler, Michael Wiederstein, Insa Wilke (Vorsitz).

In dieser Serie stellt Anton Thuswaldner Preisträgerinnen und Preisträger aus 44 Jahren vor.

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