Malina - © Foto: SIEGFRIED UNSELD ARCHIV

"Malina": Ingeborg Bachmanns Beiwerk

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Wie der Klappentext zur Originalausgabe von "Malina" entstand und der Roman umgearbeitet wurde. Ein Beitrag zum 80.Geburtstag von Ingeborg Bachmann.

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Wie der Klappentext zur Originalausgabe von "Malina" entstand und der Roman umgearbeitet wurde. Ein Beitrag zum 80.Geburtstag von Ingeborg Bachmann.

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Seuils, Schwellen, heißt im Original die Untersuchung, in der Gérard Genette, der französische Strukturironiker, das Beiwerk des Buchs in Augenschein nimmt – vom Waschzettel über den Umschlag bis zu den Rezensionen. Diese Texte über Texte funktionieren in der Tat als Schwellen: Sie leiten zum Werk über, sind also mit ihm eng verbunden, besitzen zugleich jedoch eine Eigenständigkeit und sind somit vom Werk deutlich getrennt. Da darüber hinaus jeder die Schwelle passieren muss, der zum Werk will, wenden Autor und Verlag (zuweilen auch Literaturkritiker) große Mühe an die Herstellung solcher Schwellen.

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Gleich drei Personen arbeiteten an folgendem Text, den die im Dezember 1970 erschienene Publikation Suhrkamp Verlag. Neue Bücher im 1. Halbjahr 1971 auf Seite 3 druckte: "Ingeborg Bachmann, Malina. Roman. ca. 340 Seiten. Leinen. ca. DM 20,- Ingeborg Bachmanns Ruhm ist groß, ihr Werk nicht umfangreich. Zwei Bände Lyrik, Hörspiele, Libretti, ihre Vorlesungen von 1959 als erste Gastdozentin für Poetik an der Universität Frankfurt brachten ihr Auszeichnungen und Ehrungen [...] Nach langen Jahren erscheint nun ein erster Roman." Es folgen, auf fast einer halben Seite, Beschreibungen dieses Romans.

Autorin und Verleger

Einige Charakterisierungen stammen, leicht redigiert, von der Autorin selbst: "Im ersten Kapitel (,Glücklich schlafen mit Ivan') erfährt der Leser, dass das Ich des Romans mit einem Mann namens Malina zusammenlebt, aber einen anderen Mann namens Ivan liebt." (Sie sind einer "Inhaltsangabe" durch die Verfasserin des Romans von Ende Oktober 1970 entnommen.) Einigen Zuordnungen des Buches in einem Entwurf zum Vorschautext hatte sie sich widersetzt, etwa der als "Satire".

Weitere Sätze steuerte, leicht überarbeitet, Martin Walser bei, der auf Wunsch von Ingeborg Bachmann als einer der Lektoren des Manuskriptes fungierte, z. B.: ",Malina' ist wohl die kühnste ,Dreiecksgeschichte', die man sich denken kann. Weil zwei der Beteiligten in Wahrheit eine Person sind." Der dritte Mitwirkende, in diesem Fall Co-Autor, Lektor und Überarbeiter des Vorschautextes, ist Siegfried Unseld, der Verleger des Suhrkamp Verlags.

Malina - © Foto: SIEGFRIED UNSELD ARCHIV
© Foto: SIEGFRIED UNSELD ARCHIV
Transkription

Mein Entwurf
von I. B. modifiziert
Klappentext
Ingeborg Bachmann, "Malina"

Ingeborg Bachmanns Ruhm ist groß. Die deutsche Lyrik nach 1945 ist ohne sie nicht zu denken. 1961 erschien als letztere größere Buchpublikation der Erzählungsband "Das dreissigste Jahr".

Jetzt legt die Autorin ihren ersten Roman vor: "Malina", das Buch einer Beschwörung, eines Bekenntnisses, einer Leidenschaft. "Malina" ist wohl die ungewöhnlichste Dreiecksgeschichte, die man sich denken kann. Weil zwei der Beteiligten in Wahrheit eine Person ,eins sind' und jede ,doppelt' ist.

Das Buch handelt von nichts andrem als von Liebe: in dieser Ausschließlichkeit erinnert es uns wieder daran, daß die, die lieben, dem Schmerz und der Einsamkeit preisgegeben sind.

Zeit des Romans: Heute. Ort der Handlung: Wien. Das erste Kapitel (Glücklich mit Ivan) erzählt von einem Ich, das mit einem Mann namens Malina zusammenlebt, aber einen anderen Mann namens Ivan liebt. Ivan ist jedoch nicht zufällig der Mann, den das Ich jetzt und zuletzt liebt, sondern auch erste Liebe und Liebe von jeher.

Im zweiten Kapitel ("Der dritte Mann") werden durch Träume die Ursache [!]einer fast vollkommenen Verzweiflung, ja Zerstörung jenes Ichs geschildert.

Das dritte Kapitel ("Von letzten Dingen") bringt die Trennung von Ivan, und aus intensiven Gesprächen und Geschichten wird immer deutlicher, daß Malina in Wirklichkeit der männliche Doppelgänger der weiblichen Ich-Person ist. Das Ich findet und sucht mit der Hilfe eines überlegenen Doppelgängers einen Tod, den schon viele Todesarten vorbereitet haben.

Mit diesem Vorschautext waren offensichtlich weder Autorin noch Verleger zufrieden. Denn dieser erstellte einen neuen Entwurf für einen Klappentext, den Ingeborg Bachmann am 6. Januar 1971 in Frankfurt am Main überarbeitete (Text und Korrektur werden hier erstmals zugänglich gemacht). Sie war in den ersten Januartagen dorthin gereist, um den Umbruch ihres Romans zu korrigieren. Das Manuskript war am 7. Dezember 1970 im Verlag eingetroffen.

"In einem Eilverfahren ließen wir das Manuskript in der Tübinger Druckerei Goebel setzen und umbrechen, am letzten Tag vor Weihnachten war der Umbruch da. Ingeborg B. wollte Weihnachten bei ihren Eltern in Klagenfurt verbringen, aber es war Eisenbahnerstreik, und sie wurde, als sie am Morgen des 23. zum Bahnhof ging, ,fast ermordet'. Danach war sie entmutigt, sie ging zurück, sagte ihre Reise ab, und am Telefon sagte sie mir, daß sie am 2. Januar kommen wolle." (So erklärt Siegfried Unseld in seinen Aufzeichnungen, denen auch die folgenden direkten Zitate entnommen sind, die Hintergründe des Frankfurt-Aufenthalts der Autorin.)

Von Piper zu Suhrkamp

Die Geschichte, wie die langjährige Piper-Autorin überhaupt mit diesem Buch zur Suhrkamp-Autorin wurde, geht in Kurzform so: Obwohl sich Autorin und Verleger seit Mitte der fünfziger Jahre gut kannten (von Tagungen der Gruppe 47, beim von Henry Kissinger organisierten Sommerseminar an der Harvard University 1955), obwohl Unseld 1956 den Gedichtband Anrufung des großen Bären in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gepriesen hatte, obwohl Ingeborg Bachmann zwischen 1958 und 1962 mit dem Suhrkamp-Autor Max Frisch verbunden war, drängte er sie nicht, ihre Bücher in seinem Verlag zu veröffentlichen.

1967 allerdings habe sie ihn, so Unseld, nach München "bestellt", um ihm zu erklären, ihre nächste Arbeit Suhrkamp zu geben. Um deren ungestörte Fertigstellung zu garantieren, zahlte ihr der Verlag ein Jahr lang – in diesem Zeitraum glaubte sie die Niedererschrift erledigen zu können – als Darlehen monatlich einen festen Betrag.

Aus dem einen Jahr wurden dann drei Jahre: Im Oktober 1970 hält sich Unseld in Rom auf und erfährt von Ingeborg Bachmann: "Das Wichtigste: Sie hat jetzt ein definitives Übereinkommen mit Piper getroffen. Piper behält ihr bisheriges Werk [...]. Herr Klaus Piper ist informiert, daß ihr Roman bzw. die Romanfolge, dann nicht mehr bei Piper, sondern bei uns erscheint und daß der erste Band auch schon im 1. Halbjahr 1971 herauskommen kann. Das Allerwichtigste: Sie ist mit dem ersten Buch ‚Malina‘ so gut wie fertig […].

IB hat ein ehrgeiziges Unternehmen begonnen. Es ist eine Art Recherche, die sie hier vornehmen möchte. Sie will ein Bild der Wiener Gesellschaft der letzten fünfzig, in jedem Fall der letzten zwanzig Jahre entwerfen und hineingestellt das Ich des Erzählers, ihr Ich. Die verwandelte Autobiographie der Ingeborg Bachmann. […] Die zwei weiteren Bücher ‚Das Buch Goldmann‘ und ‚Das Buch Jordan‘ liegen im Material vor. Wie die Dinge dann weitergehen, das weiß sie selber noch nicht. […] Freilich muß an dem Text noch gearbeitet werden.“

Das letzte (und schwerste) Stück Arbeit an Werk und Beiwerk stand in den ersten Januartagen an, genau: Zwischen dem 2. und dem 7. Januar 1971 wird der gesamte Umbruch komplett durchgesehen. Unter den Eingriffen (detailliert nachgewiesen sind sie im von Dirk Göttsche und Monika Albrecht erstellten Apparat der kritischen Ausgabe des „Todesarten-Projekts“, Band 3, München: Piper 1995) seien vier hervorgehoben.

Zunächst: Die im Manuskript wie im Umbruch als einseitiger und eigenständiger Prolog vorgesehenen 14 Zeilen (sie sind in ihrer inhaltlichen wie formalen Rätselhaftigkeit die idealen Neugiererwecker) werden aus dem Buch herausgelöst und auf die Rückseite des Umschlages platziert. Aus der Perspektive eines Literaturkritikers mutet diese Transformation eines Werkteils in Beiwerk, als dessen Urheberin die Autorin noch nicht einmal genannt wird, wie eine Verschlimmbesserung an. Denn die erste Zeile des geplanten Prologs (‚Mord oder Selbstmord?‘) stellt die Frage, die der letzte Satz des Romans (‚Es war Mord.‘) beantwortet. Damit geht, so ließe sich behaupten, der Spannungsbogen verloren.

Malina - © Foto: SIEGFRIED UNSELD ARCHIV
© Foto: SIEGFRIED UNSELD ARCHIV

Da die Autorin der Umstellung zugestimmt hat, ist anzunehmen, dass sie einem anderen Anliegen höhere Priorität einräumte: Sie betrachtete das Beiwerk ihres Buches als integralen Bestandteil des Romans und ließ deshalb dessen ursprüngliche Eingangszeilen auf den hinteren Umschlag setzen und stellte ihn damit fast auf die gleiche Stufe wie die Angaben auf der Umschlagvorderseite: Angabe der Verfasserin, des Titels, der Gattung und des Verlags. (Es sei hier darauf verzichtet, diese Korrektur auch poetologisch zu rechtfertigen, etwa durch den Hinweis, damit sei ein Prolog vor dem Prolog vermieden worden.)

Die zweite Änderung betrifft die Kapitelüberschriften: Der definitive Titel des ersten lautet nun ‚Glücklich mit Ivan‘, bei der des dritten wird der bestimmte Artikel getilgt. Aus ‚Von den letzten Dingen‘ wird ‚Von letzten Dingen‘ – eine Streichung, die eine theologisch-existentielle Lesart verhindern soll.

Die dritte konsequenzenreiche Korrektur geht auf einen Einwand Uwe Johnsons zurück, mit dem Ingeborg Bachmann – auch diesen genauen Leser hatte sie sich als Lektor gewünscht – während der Frankfurter Tage telefonierte. Für ihn war das Doppelgängermotiv zu realitätswidrig: Wie sollten ein weibliches Ich und ein männlicher Malina Doppelgänger sein können? Darauf reagierte die Autorin durch eine Verstärkung dieser Doppeltheit.

Der vierte hier betonte Eingriff geht auf Siegfried Unseld zurück. „Mein Hauptanliegen war die Änderung des Schlusses. Ich trug ihr vor, daß das von ihr vorgesehene Ersticken in der Mauer, das so konkret beschrieben war, durch eine Stimme, die schon Mörtel im Mund hat, durch versickernde Schreie aus der Mauer, daß dieser surreale Realismus doch nicht angebracht wäre. Ich wies ihr auch nach, daß hier ein Fehler in der Perspektivität, also der Erzählhaltung, sei.“ Die Autorin trägt diesem Einwand Rechnung, indem sie, wie auf dem hier abgebildeten Faksimile zu verfolgen ist, alle Sätze streicht oder ändert, in denen eine bestimmte Person, ein „Ich“, benannt wird.

Die These, wonach auch Ingeborg Bachmann Beiwerk und Werk für annähernd gleichgewichtig hält, findet eine zusätzliche Bestätigung in ihrer Redaktion des Klappentextentwurfs. Obwohl Malina als erster Teil der Todesarten figurieren sollte, enthält das Buch (aus leicht verständlichen Gründen) keinen Hinweis darauf. Im Beiwerk, im Klappentext, allerdings formuliert sie den Satz: „Das Ich sucht und findet mit der Hilfe seines überlegenen Doppelgängers einen Tod, den schon viele Todesarten vorbereitet haben.“ Siegfried Unseld forschte während der Korrekturtage die Autorin richtiggehend aus über die Entstehung des Romans. Dabei brachte er in Erfahrung, welchen Ort und welchen Zeitpunkt die Autorin selbst für den Auslöser des Romans hält: Triest, an einem Tag im Mai 1967.

Der Autorist Lektor im Suhrkamp Verlag.

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