"Die Heimreise" von Vladimir Vertlib: Sowjetisches Verschweigen und Vertuschen
Willkür, Überwachung, Schikanen, Antisemitismus – all das hindert Menschen in der Sowjetunion der 1950er Jahre nicht daran, Mut zu zeigen. Vladimir Vertlib geht in seinem neuen Roman „Die Heimreise“ biografischen Spuren seiner Mutter nach.
Willkür, Überwachung, Schikanen, Antisemitismus – all das hindert Menschen in der Sowjetunion der 1950er Jahre nicht daran, Mut zu zeigen. Vladimir Vertlib geht in seinem neuen Roman „Die Heimreise“ biografischen Spuren seiner Mutter nach.
Vater schwer krank! Komm rasch!“, heißt es in einem Telegramm der Mutter an die Tochter, die im fernen Kasachstan einen obligatorischen Arbeitsdienst absolviert. Noch ahnt man nicht, dass die Rückkehr zur Familie unter einem ominös agierenden diktatorischen Machtapparat langwierig und gefährlich werden wird. Zugleich aber bietet diese Heimreise einen umfassenden Einblick in die gesellschaftspolitische Situation der soeben begonnenen nachstalinistischen Ära.
Der österreichische Autor Vladimir Vertlib mit russisch-jüdischen Wurzeln ist im einstigen Leningrad geboren. Als Kind emigriert er mit seinen Eltern und lebt danach zehn Jahre in unterschiedlichen Ländern, bevor er in Österreich Fuß fassen kann. In einer Vorbemerkung zu seinem Roman verweist er auf den „realen historischen Hintergrund“ dieser Prosa. Sie sei inspiriert „von Erzählungen“ seiner „Mutter und anderer Verwandter“. Bei einer Lesung im Literaturhaus Salzburg sagt Vertlib, dass die Geschichten seiner Mutter für ihn immer eine Art „Fluchtpunkt in ein fiktives, projiziertes Russland“ gewesen seien, quasi eine Art „Gegenheimat angesichts der tristen Realität der Migration“. Für seinen Roman habe er den Stoff komprimiert und mit Fantasie angereichert.
Linas Reise
Im Mittelpunkt der Rahmenhandlung steht Lina, eine Studentin, die die Geschichte der Mutter repräsentiert. Nach dem Erhalt der Nachricht macht sie sich sofort auf den Weg, in der Hoffnung, ihren kranken Vater noch einmal zu sehen. Sie verlässt den Arbeitsdienst, das „epochale[n] Projekt“ zur „Neulandgewinnung“, zu dem man sich „freiwillig“ angemeldet hat, um „der hellen Zukunft ein paar Schritte näher zu kommen“. Die erste Etappe der Reise bewältigt sie als Beifahrerin auf einem Traktor. Die kleine Propellermaschine, die sie danach hätte mitnehmen sollen, versäumt sie. Stattdessen fährt sie mit einem jungen Lastwagenfahrer mit, um zum nächsten Bahnhof zu gelangen. Doch nach einem verschmähten Verführungsversuch setzt er sie mitten in der Einöde an einer verlassenen Haltestelle aus. Lina weiß nicht, wo sie sich befindet und wo es den nächsten Ort der Zivilisation geben würde.
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