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Das Sterben Jes alten Jacques

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Jeden Morgen brachte der alte Diener Jacques die Post in das Zimmer, in dem der k. k. Bezirkshauptmann der mährischen Kleinstadt, Baron Trotta, seit vielen Jahren sein Frühstück einzunehmen pflegte. Es war ein etwas entlegenes, tagsüber nicht benütztes Zimmer. Das Fenster, dem Osten zugewandt, ließ bereitwillig alle Morgen, die klaren, die trüben, die warmen, die kühlen und die regnerischen, ein, es -war Sommer und Winter während des Frühstücks geöffnet. Im Winter hielt der Bezirkshauptmann die Beine in einen warmen Schal gewickelt, der Tisch war nahe an den breiten Ofen gerückt, und im Ofen prasselte das Feuer, das der alte Jacques eine halbe Stunde früher angezündet hatte. Jedes Jahr am fünfzehnten April hörte Jacques auf, den Ofen zu heizen. Jedes Jahr, am fünfzehnten April nahm der Bezirkshauptmann, ohne Rücksicht auf die Witterung, seine sommerlichen Morgenspaziergänge auf. Er kam nicht vor acht zurück. Manchmal begegnete er dem Briefträger im Flur oder auf der Treppe. Dann ging er noch für eine Weile in die Kanzlei. Denn er liebte es, die Briefe schon neben dem Tablett beim Frühstück vorzufinden.

Eines Tages, es war Ende Mai, kehrte Herr von Trotta fünf Minuten nach acht von »einem Spaziergang heim. Der Briefträger mußte längst dagew esen sein. Herr von Trotta »etzte sich an den Tisch im Frühstückszimmer. Das Ei stand, „kernweich" wie immer, auch heute im silbernen Becher. Golden schimmerte der Honig, die frischen Kaisersemmeln dufteten nach Feuer und Hefe wie alle Tage, die Butter leuchtete gelb, gebettet in ein riesiges dunkelgrünes Blatt, im goldgeränderten Porzellan dampfte der Kaffee. Nichts fehlte. Wenigstens schien es Herrn von Trotta im ersten Augenblick, daß gar nichts fehlte. Aber gleich darauf erhob er sich, legte die Serviette wieder hin und überprüfte noch einmal den Tisch. Am gewohnten Platz fehlten die Briefe. Es war, soweit sich der Bezirkshauptmann erinnern konnte, kein Tag ohne dienstliche Post vergangen. Herr von Trotta ging zuerst zum offenen Fenster, wie um sich zu überzeugen, daß draußen die Welt noch bestand. Ja, die alten Kastanien im Stadtpark trugen noch ihre dichten grünen Kronen. Es hat sich also draußen gar nichts verändert, stellte der Bezirkshauptmann fest. War es möglich, daß keine Post gekommen war? War es möglich, daß Jacques sie vergessen hatte? Herr von Trotta schwang die Tischglocke. Ihr silberner Klang lief hurtig durch das stille Haus. Niemand kam. Der Bezirkshauptmann schwenkte noch einmal das Glöckchen. Endlich klopfte es. Er war erstaunt, erschrocken und beleidigt, als er seine Haushälterin, Fräulein Hirschwitz, eintreten sah.

„Wo ist Jacques?“ frug er.

„Jacques ist heute von einer Unpäßlichkeit befallen worden.“

„Befallen?“ wiederholte der Bezirkshauptmann. der nicht sofort begriff. „Krank ist er?“ fragte er weiter.

„Er hat Fieber“, sagte Fräulein Hirschwitz.

„Danke!“ sagte Herr von Trotta und winkte mit der Hand.

Er setzte sich an den Tisch. Er trank nur den Kaffee. Das Ei, den Honig, die Butter und die Kaisersemmeln ließ er auf dem Tablett. Er verstand nun zwar, daß Jacques krank geworden und also nicht imstande war, die Briefe zu bringen. Warum aber war Jacques krank geworden?

Er klingelte noch einmal. „Ich möchte die Post“, sagte er zu Fräulein Hirschwitz, „aber »chicken Sie sie mit irgend jemandem, bitte! — Was fehlt denn dem Jacques übrigens?“

„Er wird sich erkältet haben“, sagte Fräulein Hirschwitz.

„Erkältet?! Im Mai?“

„Er ist nicht mehr jung.“

„Lassen Sie den Doktor Sribny kommen!“ Dieser Doktor war der Bezirksarzt. Er amtierte in der Bezirkshauptmannschaft von neun bis zwölf. Bald mußte er da sein. Nach Ansicht des Bezirkshaupcmannes war er ein „honetter Mann“.

Indessen brachte der Amtsdiener die Post. Der Bezirkshauptmann sah nur die Umschläge an, gab sie zurück und befahl, sie in die Kanzlei zu legen. Er stand am Fenster und konnte sich nicht genug darüber verwundern, daß die Welt draußen noch gar nichts von den Veränderungen in seinem Haus zu wissen schien. Er hatte heute weder gegessen noch die Post gelesen. Jacques lag an einer rätselhaften Krankheit darnieder. Und das Leben ging weiter seinen gewohnten Gang.

Sehr langsam, mit mehreren unklaren Gedanken beschäftigt, schritt Herr von Trotta ins Amt, zwanzig Minuten später als sonst setzte er sich an den Schreibtisch.

Den Bezirksarzt, der nach einiger Zeit eintrat, fragte Herr von Trotta nach dem Befindendes alten Jacques. Doktor Sribny sagte: „Wenn’s eine Lungenentzündung wird, hält er’s nicht durch. Er ist sehr alt. Er hat jetzt vierzig Fieber. Er hat um den Geistlichen gebeten.“ Der Bezirkshauptmann beugte sich über den Tisch. Er fürchtete, Doktor Sribny könnte irgendeine Veränderung in seinem Angesicht wahrnehmen und er fühlte, daß sich in der Tat irgend etwas in seinem Angesicht zu verändern begann. Er zog die Schublade auf, holte die Zigarren hervor und bot sie dem Doktor an. Er wies auf den Lehnstuhl. „Sie haben also wenig Hoffnung?“ fragte Herr von Trotta. „Eigentlich sehr wenig, um die Wahrheit zu sagen“, erwiderte der Doktor. „In diesem Alter . . .“ Er vollendete den Satz nicht und sah den Bezirkshauptmann an,

als wollte er erkennen, ob der Flerr um vieles jünger sei als der Diener. „Er ist nie krank gewesen“, sagte der Bezirkshauptmann, als wäre das eine Art Milderungsgrund, und der Doktor eine Instanz, von der das Leben abhing. „Ja, ja“, sagte der Doktor nur. „Das kommt vor. Wie alt mag er sein?“ Der Bezirkshauptmann dachte nach und sagte: „An die achtundsiebzig bis achtzig.“ — „Ja“, sagte Doktor Sribny, „so hab’ ich ihn auch geschätzt. Das heißt: erst heute. Solang einer herumläuft, denkt man, er wird ewig leben.“

Hierauf erhob sich der Bezirksarzt und ging an seine Arbeit.

Herr von Trotta schrieb auf einen Zettel: „Ich bin in der Wohnung Jacques’“, legte das Papier unter einen Briefbeschwerer und ging in den Hof.

Er war noch niemals in Jacques’ Wohnung gewesen. Sie lag, ein winziges Häuschen mit einem allzu großen Schornstein auf dem Dächlein, an die rückwärtige Hofmauer angebaut. Man betrat zuerst die Küche und dann durch eine Glastür die Wohnstube. Jacques’ zahmer- Kanarienvogel stand auf dem Kuppelknauf seines Käfigs, neben dem Fenster mit der etwas kurzen weißen Gardine, hinter der die Scheibe ausgewachsen erschien. Der glattgehobelte Tisch war an die Wand gerückt. Die heilige Mutter Gottes stand in einem großen Rahmen auf dem Tisch, gegen die Mauer gelehnt, wie etwa Porträts von Verwandten aufgestellt werden. Im Bett, mit dem Kopf gegen die Fenster wand, unter einem weißen Berg von Tüchern und Kissen lag Jacques. Er glaubte, der Priester sei gekommen und seufzte tief und befreit, als käme schon zu ihm die Gnade. „Ach, Herr Baron!“ sagte er dann. Der Bezirkshauptmann setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bc'tt und sagte: „Na, das ist ja nicht so schlimm, sagt mir eben der Doktor. Wird ein Katarrh sein.“ „Jawohl, Herr Baron!“ erwiderte Jacques und machte unter der Decke einen schwachen Versuch, die Fersen zusammenzuschlagen. Er setzte sich aufrecht. „Ich bitte um Entschuldigung“, fügte er hinzu. „Morgen, denk ich wird’s vorbei sein.“ — „In einigen Tagen ganz gewiß.“ — „Ich warte auf den Geistlichen, Herr Baron.“ — „Ja, ja“, sagte der Herr von Trotta, „er. wird schon kommen. Dazu ist noch lange Zeit.“ — „Er ist schon unterwegs“, erwiderte Jacques in einem Ton, als sähe er den Geistlichen mit eigenen Augen näherkommen. „Er kommt schon“, fuhr er fort, und er schien plötzlich nicht mehr zu wissen, daß der Bezirkshauptmann neben ihm saß.

Herr von Trotta versuchte den Alten sachte in die Polster zu drücken, aber Jacques Oberkörper war steif und gab nicht nach. Nur sein Kopf zitterte und seine dunkelblaue Nachtmütze zitterte ebenfalls unaufhörlich. Auf seiner gelben, hohen und knochigen Stirn glitzerten winzige Schweißperlen. Der Bezirkshauptmann trocknete sie von Zeit zu Zeit mit seinem Taschentuch, es kamen aber immer wieder neue. Er nahm die Hand des alten Jacques, betrachtete die rötliche, schuppige und spröde Haut auf dem breiten Flandrücken und den kräftigen, weit abstehenden Daumen. Dann legte er die Hand wieder sorgfältig auf die Decke, ging in die Kanzlei zurück, befahl dem Amtsdiener, den Geistlichen und eine barmherzige Schwester zu holen, Fräulein Hirschwitz, inzwischen bei Jacques zu wachen, ließ sich Hut, Stock und Handschuhe reichen und schritt zu dieser ungewohnten Stunde in den Park, zur Ueber- raschung aller, die sich dort befanden.

Es trieb ihn aber bald aus dem tiefen Schatten der Kastanien ins Haus zurück. Als -er sich seiner Tür näherte, vernahm er das silberne Geläute des Priesters mit dem Allerheiligsten. Er zog den Hut und neigte den Kopf und verharrte so vor dem Eingang. Nach einiger Zeit verließ der Priester wieder das Haus. Der Bezirkshauptmann durchschritt geradewegs den Hof und trat in das Zimmer des Sterbenden. Er schickte Fräulein Hirschwitz hinaus und setzte sich ans Bett. Man hörte das Säuseln der Bäume, den sachten Atem des Windchens, das übermütige Summen der funkelnden spanischen Fliegen und das Trillern der Lerchen aus blauen unendlichen Höhen. Der Kanarienvogel schwang sich hinaus, aber nur, um zu zeigen, daß er noch fliegen könne. Denn er kam nach ein paar Augenblicken wieder, setzte sich aufs Fensterbrett und begann, mit verdoppelter Kraft zu schmettern. Fröhlich war die Welt, drinnen und draußen. Und Jacques beugte sich aus dem Bett, lauschte regungslos, die Schweiß- perlchen glitzerten auf seiner harten Stirn, und sein schmaler Mund öffnete sich langsam. Zuerst lächelte er nur stumm. Dann kniff er die Augen zu, seine hageren, geröteten Wangen falteten sich an den Backenknochen, jetzt sah er aus wie ein alter Schelm, und ein dünnes Kichern kam aus seiner Kehle. Er lachte. Er lachte ohne Aufhören, die Kissen zitterten leise, und das Bettgestell stöhnte sogar ein wenig. Auch der Bezirkshauptmann schmunzelte. Ja, der Tod kam zum alten Jacques wie ein munteres Mädchen im Frühling, und Jacques öffnete den alten Mund und zeigte ihm die spärlichen gelben Zähne. Er hob die Hand, wies auf das Fenster und schüttelte, immerfort kichernd, den Kopf. „Schöner Tag heute“, bemerkte der Bezirkshauptmann. „Da kommt er ja, da kommt er ja“, sagte Jacques.

„Hast noch lange Zeit!“ erwiderte der Bezirkshauptmann. „Nein, nein“, sagte Jacques und lachte sehr hell. „Lang’ genug hab ich Zeit gehabt. Jetzt geht's hinauf. Schau mal nach, wie alt ich bin. Ich hab’s vergessen.“ — „Wo soll ich nachsehen?“ „Da unten“, sagte Jacques und deutete auf das Bettgestell. Es enthielt eine Schublade. Der Bezirkshauptmann zog sie heraus. „Hier ist das Büchlein“, sagte Jacques. Es war Jacques’ Militärbuch. Der Bezirkshauptmann setzte den Zwicker auf und las: „Franz Xaver Joseph Kromichl.“ „Ist das dein Büchl?“ fragte Herr von Trotta. „Freilich“, sagte Jacques. „Aber du heißt ja Franz Xaver Joseph?“ — „Werd’ schon so heißen. — »Warum hast dich den Jacques genannt?“ — „Das hat der selige Vater so befohlen.“ — „So“, sagte Herr von Trotta und las das Geburtsjahr. „Dann bist du also zweiundachtzig im August.“ — „Zweiundachtzig im August? Was ist denn heut?“ — »Der neunzehnte Mai.“ — „Wie lang haben wir noch bis August?“ — „Drei Monate.“ — „So“, sagte Jacques ganz ruhig und lehnte sich wieder zurück. „Das erleb ich also nicht mehr.“ — »Mach’s Fenster zu. Ich möcht’ schlafen“, sagte er nach einer Weile.

Es war Mittag geworden. Jacques atmete still. Der Bezirkshauptmann ging ins Speisezimmer.

„Ich esse nicht“, sagte er zu Fräulein Hirschwitz. Er überblickte das Speisezimmer. Hier, an dieser Stelle, war Jacques immer mit der Platte gestanden, so war er an den Tisch getreten und so hatte er sie dargereicht. Er ging in den Hof hinunter, setzte sich auf die Bank an der Wand unter das braune Gebälk des hölzernen Vorsprungs und wartete auf die barmherzige Schwester. „Er schläft jetzt“, sagte er, als sie kam. Der zarte Wind fächelte von Zeit zu Zeit vorüber. Der Schatten des Gebälks wurde langsam breiter und länger.

Auf einmal hörte er die barmherzige Schwester aus der Tür treten. Sie erzählte, daß Jacques, anscheinend bei klarer Vernunft und ohne Fieber, aus dem Bett aufgestanden und eben im Begriffe sei. sich anzuziehen. In der Tat erblickte der Bezirkshauptmann gleich darauf den Alten am Fenster. Er hatte Pinsel, Seife und Rasiermesser auf das Fensterbrett gelegt, wie er es an gesunden Tagen jeden Morgen zu tun pflegte, und den Handspiegel an der Fensterschnalle aufgehängt, und er war im Begriff, sich zu rasieren. Jacques öffnete das Fenster, und mit seiner gesunden, gewohnten Stimme rief er: „Es geht mir gut, Herr Baron, ich bin ganz gesund, bitte um Entschuldigung, bitte, sich nicht zu inkommodieren!"

„Na, dann ist alles gut! Das freut mich, freut mich außerordentlich. Jetzt wirst du als Franz Xaver Joseph ein neues Leben beginnen!"

„Ich bleib’ lieber beim Jacques.“

Herr von Trotta, von solch wunderbarem Ereignis erfreut, aber auch ein wenig ratlos, kehrte auf seine Bank zurück, bat die barmherzige Schwester, für alle Fälle noch dazubleiben, ging dann in die Kanzlei, von einer großen Sorge zwar befreit, aber auch erfüllt von einer noch größeren und unerklärlichen Unruhe. Er konnte nicht mehr arbeiten. Dem Wachtmeister Šlama, der schon lange auf ihn gewartet hatte, gab er Anweisungen für das kommende Fest der Sokoln, aber ohne Strenge und Nachdruck. Er verabschiedete den Wachtmeister, rief ihn aber gleich darauf zurück und sagte: „Hören Sie, Šlama, ist Ihnen schon io was zu Ohren gekommen, der alte Jacques lieht heut’ vormittag aus, als ob er sterben müßt’, und jetzt ist er wieder ganz vergnügt!“

Nein, der Wachtmeister Šlama hatte noch nie etwas Aehnliches gehört. Und auf die Frage des Bezirkshauptmannes, ob er den Alten sehen wolle, sagte Šlama, er sei gewiß dazu bereit. Und beide gingen sie in den Hof.

Da saß nun Jacques auf seinem Schemel, eine Reihe militärisch geordneter Stiefelpaare vor Sich, die Bürste in der Hand und in die hölzerne Schachtel mit der Schuhwichse kräftig spuckend. Er wollte sich erheben, als der Bezirkshauptmann vor ihm stand, konnte es aber nicht schnell genug und fühlte auch ichon die Hände Herrn von Trottas auf leinen Schultern. Heiter salutierte er mit der Bürste vor dem Wachtmeister. Der Bezirkshauptmann setzte sich auf die Bank, der Wachtmeister lehnte das Gewehr an die Wand und setzte sich ebenfalls, in gehöriger Entfernung, Jacques blieb auf seinem Schemel und putzte die Stiefel, wenn auch sanfter und langsamer als sonst. In seiner Stube saß indessen betend die barmherzige Schwester.

„Jetzt ist mir eingefallen“, sagte Jacques, „daß ich heut’ Herrn Baron ,du‘, gesagt hab’. Ich hab mich plötzlich erinnert.“

„Macht nix, Jacques“, sagte Herr von Trotta. „Das war das Fieber.“

„Ja, da hab ich halt als Leich’ geredet. Und wegen Falschmeldung müssen S’ mich einsperren, Herr Wachtmeister. Weil ich nämlich Franz Xaver Joseph heiß! Aber auf’m Grabstein hätt’ ich auch den Jacques gern drauf. Und mein Sparkassenbuch! liegt unterm Mili- tärbüchl. da is was fürs Begräbnis und eine heilige Meß, und da heiß ich aber wieder Jacques.“

„Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte der Herr Bezirkshauptmann. „Wir können warten.“

Der Wachtmeister lachte laut und wischte sich die Stirn.

Jacques hatte alle Stiefel blank geputzt. Ihn fröstelte ein wenig, er ging hinein, kam wie-

der, in seinen winterlichen Pelz gehüllt, den er auch im Sommer trug, wenn es regnete, und setzte sich auf die Bank. Er setzte sich ohne ein Wort und überraschend zwischen den Bezirkshauptmann und den Wachtmeister, öffnete den Mund, atmete tief, und ehe sich- noch beide ihm zugewandt hatten, sank sein alter Nacken auf die Lehne, seine Hände fielen auf den Sitz-, sein Pelz öffnete sich, seine Beine streckten sich starr, und die aufwärts geschweiften Pantoffelspitzen ragten in die Luft. Der Wind fuhr heftig und kurz durch den Hof. Die Sonne war hinter der Mauer verschwunden. Der Bezirkshauptmann bettete den silbernen Schädel seines Dieners in seine linke Hand und tastete mit der Rechten nach dem Herzen des Ohnmächtigen. Der Wachtmeister stand erschrocken da, seine schwarze. Mü,tze lag am Boden. Die barmherzige Schwester kam mit breiten, eiligen Schritten. Sie nahm die Hand des Alten, hielt sie eine Weile zwischen den Fingern, legte sie sanft auf den Pelz und machte das Zeichen des Kreuzes. Sie sah den Wachtmeister still an. Er verstand und griff Jacques unter die Arme. Sie faßte seine Beine. So trugen sie ihn in die kleine Stube, legten ihn auf das Bett, falteten ihm die Hände und umwanden sie mit dem Rosenkranz und stellten ihm das Bild der Mutter Gottes zu Häupten. An seinem Bett knieten sie nieder, und der Bezirkshauptmann betete.

Dann erhob er sich, warf einen BJick auf die Hose, fegte den Staub von den Knien und schritt hinaus, gefolgt vom Wachtmeister.

„So möcht’ ich einmal sterben, lieber Šlama“, sagte er statt des gewöhnlichen „Grüß Gott“ und ging ins Herrenzimmer.

Er schrieb die Anordnungen für die Aufbahrung und das Begräbnis seines Dieners auf einen großen Bogen Kanzleipapier, mit allem Bedacht, wie ein Zeremonienmeister, Punkt für Punkt, Abteilungen und Unterabteilungen. Er fuhr am nächsten Morgen, ein Grab zu suchen, auf den Friedhof, kaufte einen Grabstein und gab die Inschrift: „Hier ruht in Gott Franz Xaver Joseph Kromichl, genannt Jacques, ein alter Diener und ein treuer Freund“ und bestellte ein Leichenbegängnis erster Klasse. Er ging drei Tage später zu Fuß hinter dem Sarg, als einziger Leidtragender, in gebührendem Abstand gefolgt vom Wachtmeister Slafna und manchen anderen, die sich anschlossen, weil sie Jacques gekannt hatten, und besonders, weil sie Herrn von Trotta zu Fuß sahen. So kam es, daß eine stattliche Apzahl von Leuten den alten Franz Xaver Kromichl, genannt Jacques, zu Grabe geleitete.

Von nun an erschien dem Bezirkshauptmann sein Haus verändert, leer und nicht mehr heimisch. Er fand die Post nicht mehr neben seinem Frühstückstablett und er zögerte auch, dem Amtsdiener neue Anweisungen zu geben. Er rührte nicht mehr eine einzige seiner kleinen silbernen Tischglocken an, und wenn er manchmal zerstreut die Hand nach ihnen ausstreckte, so streichelte er sie nur. Manchmal am Nachmittag lauschte er auf und glaubte, den Geisterschritt des alten Jacques auf der Treppe zu vernehmen. Manchmal ging er in die kleine Stube, in der Jacques gelebt hatte und reichte dem Kanarienvogel ein Stückchen Zucker zwischen die Käfigstangen.

Aus „Radetzkymarsch", Verlag Kiepenheuer ö Witsch

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