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Der Nihilist

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Die Sache spielte sich auf einer Nebenlinie ab, ganz abseits der „großen Welt“. Die Züge gingen unregelmäßig, und, mochte man erste, zweite oder dritte Klasse haben, man mußte froh sein„ überhaupt einen Sitzplatz zu erwischen. Die Nacht war fürchterlich kalt. Die männlichen Reisegefährten waren reichlich mit Wodka versorgt, um sich wenigstens damit zu erwärmen. Wie immer nach solcher Prozedur lösten sich die Zungen, und um Mitternacht waren alle „Brüderchen“, die einander dreimal küßten.

Ich hatte mein Getränk hinter die Binde gebracht und setzte mich zu dem Diakon. „Nitschewo, Brüderchen“, sagte der Unteroffizier, der mit hochgeröteten Wangen uns gegenüber saß und mit einer Frau, der einzigen in unserem Abteil, zu schwatzen begann. „Es gibt wirklich Teufel auf der Welt. Ich hatte es selbst oft beobachtet...“

„Macht nichts", bemerkte der Diakon. „Ich habe ja mein Gebetbuch bei mir, und das goldene Kreuz hat noch größere Wirkung!"

Nach vielem Trinken und Reden waren schließlich alle müde und schläfrig geworden. „Eine schreckliche Geschichte“, lallte noch der dicke Kaufmann, „man hat den Ersten Staatsanwalt in St. Petersburg abgesetzt, weil er die Nihilisten zu milde behandelte.“

„Möchten Sie sich vielleicht um die Stellung bewerben, Bruder?" kicherte der Unteroffizier.

„Nitschewo! Man hat schon einen Ersatz. Er soll fürchterlich streng sein. Die harmlosesten Diebe schickt er kaltblütig über den Baikal“, stimmte der Diakon bei. „Ich möchte, bei Gott, nicht in seiner Nähe sein!“

„Uff“, sagte ich. „Wollen wir nicht lieber ein weniv zu schlafen versuchen? Also, los, los,

Brüder.“ Alle gehorchten und nickten alsbald ein. Ich kann nicht sagen, wie lange wir gedöst haben, als wir plötzlich gestört wurden. In unserem Abteil saß auf einmal — niemand zweifelte- daran — ein Nihilist! Alle starrten den seltsamen Mitreisenden an. Aber keiner vermochte ihn genauer zu sehen, weil er sich in das Halbdunkel einer Ecke verkroch und uns keines Blickes würdigte. Trotzdem fühlten alle instinktiv, daß man einen Attentäter vor sich habe. Der Diakon erhob sich und schlenderte ein paar Schritte zur Tür und wieder zurück. Als er sich auf seinen "Platz niederließ, flüsterte er in mein Ohr: „Es ist eine klare Sache. Der Mann hält einen Barbos-Revolver krampfhaft mit der Hand in der Tasche. Ich habe den Griff gesehen...“

Der Unteroffizier faßte Mut und ersuchte den Fremden um Feuer. Der Nihilist reichte ihm wortlos die Streichholzschachtel, jedoch, ohne die zweite Hand aus der Tasche zu ziehen.

„Das Profil ist scharf, blaß und energisch. Die Nase gekrümmt“, flüsterte der Kaufmann. „Die Reisedecke auf den Schultern ist typisch nihilistisch!“

Ich stellte fest, daß seift Haar dunkel und sorgfältig gekämmt war; seine große Brille funkelte im Halbdunkel wie Teufelsaugen.

„Ich fürchte mich“, jammerte die Frau an meiner Seite.

„Keine Bange, gleich kommen wir zur Station“, beruhigte sie der Unteroffizier.

„Es ist bestimmt ein Teufel“, flüsterte sie.

„Es ist ein Nihilist!"

„Das ist das gleiche", sagte die Frau.

„Ich habe das Gebetbuch und das Kreuz mit, gottlob“, wiederholte der Diakon.

„Ja, mit dem Gebetbuch, Väterchen", sagten alle leise und bekreuzigten sich.

„Und der Korb zu seinen Füßen? Was mag wohl darin sein?“

„Ich rufe den Schaffner", erklärte der Soldat. „Da ist schon die Station. He, Kontrollor, hierher .. .1“

„Na, was gibt’s?“ Der Schaffner stellte sich vor den Nihilisten und sagte freundlich: „Möchten Sie, bitte, Ihren Korb nicht lieber im Gepäckwagen abgeben, Herr ...?“

Der Nihilist sah ihn an und gab keine Antwort. „Ich meine Ihren Korb. Herr!“

Plötzlich vernahmen wir eine tiefe Baßstimme, die uns durch Mark und Bein ging:

„Nein!“

„Es ist verboten, große Gepäckstücke bei sich zu haben“, sagte der Schaffner scharf.

„Ausgezeichnet“, sagte der Mann in der Ecke. „Ordnung muß sein!“

„Na, also! Dann fort damit!“

„N j e t !“ war die kalte Antwort.

„Schön“, sągte der Kondukteur. „Ich mache Sie aufmerksam, daß die Sache zur Anzeige kommt.“

„Vielleicht sind Giftschlangen "drin“, meinte der Kaufmann unvorsichtig. Die Frau riß die Beine hoch und starrte uns hilflos an.

„Das wäre noch lange nicht so schlimm. Aber wenn eine Granate... So einem ist alles zuzuträuen!“ grinste der Soldat. '

„Schaffen Sie den Korb weg, Sie...“, rief der Kaufmann, fürchtete sich jedoch, den Korb zu berühren. Das Individuum blickte ihn verächtlich an. „Ich wünsche es nicht“, wiederholte er sarkastisch.

„Ihnen macht es wohl nichts aus, wenn Sie nach Solowky wandern? Sie wissen sehr gut, wie man bei uns mit .solchen Subjekten umgeht?" mahnte der Diakon.

„Weiß ich, weiß ich!“ brummte der Unheimliche.

Der Schaffner trat wieder ein. „Sobald wir einfahren“, sagte er, „geruhen Sie sich, Ihren Korb mitzunehmen, Herr..."

„Nein!"

Wir kamen an. Viele Lichter funkelten uns entgegen. Wir stiegen aus und schlenderten zü dem Stationsgebäude. Hinter dem großen Fenster erblickten wir ein Büfett mit dem Samowar, den Bahnhofsvorsteher und zwei Gendarmen, mit einem Wort: alles, was nötig war.

Der Nihilist schritt mit seiner Tasche dem, Gebäude zu. Wir tappten hinter ihm her, voll Wollust vor dem Endspiel.

Drinnen stand- schon der gefährliche, Korbwr; den der Schaffner vorhin konfisziert hätte. Um Ihn herum gespannte Mienen. „Ihr Korb?" wandte sich der Vorsteher an den Nihilisten. „Nein!“ entgegnete dieser.

„Wie denn?" wunderte sich der Beamte.

„Wir alle sind Zeugen, daß der Korb i h m gehört“, sagte der Diakon, das Gebetbuch in der Hand schwenkend.

„Was ist drin?“ fragte der Beamte streng. „Keine Ahnung!“

„Aufmachen!“ befahl der Vorsteher. „Aber gebt acht! Weiß der Teufel, was für eine Höllenmaschine drin steckt!“

Man öffnete den Deckel. In feinem, seidenem Papier eingewickelt, lag — ein hauchdünnes Brautkleid mit dem Schleier und winzigen Atlasschuhen, eine schöne Bronzeuhr und ein Opernglas...

Peinliche Stille ringsum. In diesem Augenblick stürzte ein Männlein herein und rief außer Atem: „Das ist mein Korb, Euer Hochwohlgeboren! Diese Sachen bringe ich aus Petersburg für die Tochter des Obersten Iwanow zur Hochzeit!“

„So...?“ rief der Vorsteher. „Und dein Billett, Jascha Hirschberg?"

„Billett? Ach was, ich wußte nicht einmal, wo man es kaufen kann. Ich fuhr einfach in der Lokomotive!“

„Abführen“, brummte der Gendarm. „Bitte, Ihr Ausweis“, wandte er sich an den schwarzen Mann.

Wir warteten gespannt, was nun folgen würde. Der Nihilist reichte das Gewünschte, ohne etwas zu sagen.

Der Vorsteher und die Polizisten änderten blitzschnell ihre Haltung. Sie wurden blaß und stotterten erschrocken. „Oh, Euer Hochwohlgeboren! Sie werden erwartet — bitte, hier, im Salon...!“

Der zweite Gendarm strafte uns mit bösem Blick. „Was für ein blödes Volk ihr doch seid“, zischte er. „Das ist der Erste Staatsanwalt von St. Petersburg. Nun macht, daß ihr verschwindet, Brüderchen, aber rasch, bevor sich Hochwohlgeboren anders besinnt!“

Vernichtet upd beschämt standen wir da und gafften einander an. Wir konnten es kaüm fassen. Es war für uns mehr Enttäuschung als Befriedigung. Der Diakon seufzte tief, steckte sein Gebetbuch in die Tasche und schlich wortlos aus dem Stationszimmer.

(Aus dem Russischen von I. v. Bischoffshausen)

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