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Der Schock der Flüchtlinge

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„Tfadel ja Sidi“ — Bitte greifen Sie zu — sagte mir Taher Muham- med, als er mich zu einer Tasse türkischen Kaffees in einem der Cafes in der Hauptstraße von Gaza einlud. „Was ist mit den Flüchtlingen?“ fragte ich. Mein Gewährsmann zog wieder an seiner Wasserpfeife und blickte mich mit klugen Augen an. „Wir leben hier seit der Zeit Abrahams. Unsere Väter und Vorväter bebauten hier das Land. Aber die — (die Flüchtlinge) sind weder Beduinen noch Fellachen, noch Städter. Sie sind Blattläuse und leben von Almosen."

Von den zirka 300.000 Einwohnern des Gazastredfens sind ungefähr zwei Drittel Flüchtlinge, von denen ungefähr 175.000 in den verschiedenen Flüchtlingslagern leben. Diese ähneln einander beinahe wie ein Ei dem anderen: kleine Hütten von zirka 25 Quadratmeter Innenfläche mit Wellblechdächern auf Betonblocks, ainsitaitt Kanalisation stehen zwischen den Hütten Wasserlaken mit schmutzigem Wasser. Mein neuer Freund ans Gaza weigerte sich, mich in das Flüchtlingslager zu begleiten. „Wir Leute von Gaza gehen nicht dorthin“, sagte er abfällig.

Ich parkte mein Auto außerhalb des Lagers. Ein halbes Dutzend Kinder umringten mich sofort, und jeder wollte für ein kleines Entgelt den Wagen waschen. Sie hatten weder Lappen noch sonstiges Zubehör zu diesem „Beruf“, gaben sich aber auch mit einem kleinen „Bak- schisch“ (Trinkgeld) zufrieden, ohne den Wagen zu waschen. Ich spazierte allein durch das Flüchtlingslager in Gaza, in dem zirka 35.000 Leute wohnen. Ein junger Mann schloß sich mir an. „Sie sind Journalist?“ fragte er mich, und als ich ihm erklärte, daß ich für die Auslandspresse schreibe, war er sofort aufgeschlossen.

Wir begaben uns in ein Cafe, das mehr einem Verschlag glich, doch der türkische Kaffee war auch hier sehr gut. Mein Begleiter fand in dem Cafe einige Bekannte, zu denen wir uns gesellten.

„Warum arbeiten Sie nicht?“ fragte ich die jungen Leute. „Wir haben keine Arbeit“ — lautete die Antwort. Es handelte sich um fünf

Jugendliche im Alter von 18 bis ; 25 Jahren. Einer von ihnen stand auf und sagte: „Ich will nicht arbeiten, denn ich warte darauf, in meine Heimat zurückzukehren. Ich bin aus Ramie", und seine Augen funkelten. Sein Begleiter übersetzte mir alles ins Englische. Wir begaben uns, sechs Mann hoch, zur alten Fatme.

Eine alte Frau weint

„Wie geht es dir?“ fragte mein Begleiter, der sich mir als Abdul Asis vorgestellt hatte. Fatme, ungefähr 70 Jahre alt, antwortete: „Gott sei Dank, es geht mir gut, und wenn Alla weiter hilft, wird es mir auch weiter gut gehen.“ — „Wie geht es deinen Kindern?“ fragte mein Gewährsmann. „Gut, nur der Kleinste ist maskin“ (bemitleidenswert), sagte sie einige Male. „Er ist schon ein halbes Jahr im Krankenhaus, und seine Frau und seine Kinder sind allein.“ und Fatme trocknete sich die Tränen und fuhr fort: „Er ist so gut und vielleicht wird er sterben?" — „Insch Alla“ (das gebe Gott) „daß er gesund wird“, sagte mein Begleiter. Und Fatme antwortete: „Insch Alla.“

„Haben Sie gesehen, wie sie geweint hat?“ fragte mich Abdul Asis. „Noch jetzt, ein halbes Jahr darnach, weint sie über die Schmach, die über sie kam. Drei Soldaten mit Maschinenpistolen kamen in das Haus und haben der armen Frau Leid angetan.“ Die anderen jungen Leute blickten vielsagend vor sich hin.

Ich bedankte mich auf arabisch bei den verdutzten Begleitern und begab mich auf eine weitere Tour. Diesmal verzichteten sie darauf, mich zu begleiten.

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