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Der Weg, Jen wir einschlagen

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Als ich zehn Jahre alt war, legte ich mir eine Briefmarkensammlung zu. Mein Vater war dagegen, er meinte, es halte mich nur vom Lernen ab. Aber ich liebte nun einmal Briefmarken — liebte sie fast so sehr wie meinen Spielgefährten, den Loisl. Diese Freundschaft entsprang der kindlichen Begeisterungsfähigkeit und Bewunderung, dem Ueberschwang der Jugend. Mein Vater war Notar, ein schrecklich würdiger, angesehener und strenger Mann. Und ich hatte den Loisl ins Herz geschlossen, der viel älter war als ich, dessen Vater ein Trunkenbold und dessen Mutter eine Herumtreiberin war, den blauäugigen Loisl mit seinem zerzausten Blondschopf, der selbständig und tapfer war und Steine mit der linken Hand über den Fluß werfen konnte und der ein offenes, ehrliches Wesen hatte. Es versteht sich von selbst, daß ich ihn in mein Vertrauen schloß, als ich Marken zu sammeln anfing. Wir mußten uns mit meiner Sammlung auf dem Speicherboden verstecken, damit mein gestrenger Vater nicht dahinterkam. Es stand dort eine riesige Holztruhe, in die wir uns mit unserem Schatz verkrochen wie zwei Mäuse. Die seligsten Stunden waren es, wenn ich dann Stöße verstaubter Umschläge durchblättern und Marken heraussuchen durfte.

Ich ging in viele Geschäftskontore der Stadt und bettelte um alte Briefmarken. Suchen und Finden ist die größte Spannung, die köstlichste Befriedigung, die das Leben dem Menschen zu bieten vermag.

So verstrichen ein, zwei Jahre. Es waren die schönsten meines Lebens. Dann erkrankte ich

an Scharlach, und mein Freund wurde nicht zu mir gelassen, obwohl er in unserem Haus wohnte. In einer unbewachten Stunde entwischte ich einmal aus dem Bett — hinauf auf den Speicher, um nach meinen Marken zu sehen. Ich war so schwach, daß ich kaum den Truhendeckel heben konnte. Als ich hineinschaute, war die Kiste leer: die Schachtel mit den Marken war verschwunden! Ich muß eine ganze Weile wie aus Stein dagestanden haben. Es war schrecklich, daß meine Marken weg waren: aber viel schrecklicher noch war die Gewißheit, daß niemand anderer sie genommen haben konnte als der Loisl, mein bester Freund.

Es ist unfaßbar, wie sehr ein Kind zu leiden vermag. Ich weiß nicht mehr, wie ich vom Speicher herunterkam, ich weiß nur noch, daß ich heftiges Fieber bekam. In klaren Augenblicken gab ich mich verzweifelt meinem wilden Schmerz hin, aber weder dem Vater noch meiner Tante, die mich pflegte — meine Mutter war schon frühzeitig gestorben —, vermochte ich etwas über den Grund meiner Verzweiflung anzuvertrauen.

Als ich nach vielen Wochen zum ersten Mal wieder auf die Straße kam, traf ich den Loisl im Treppenhaus. Er wurde hochrot im Gesicht, als, er mich erblickte — aus Scham, sagte .ich mir -Tis trat auf mich zu und streckte mir beide Hände entgegen. Ich wandte mich ab: „Ich verkehr nicht mehr mit dir“, sagte ich hochmütig. Der Loisl wurde womöglich noch röter im Gesicht, und nach einer Weile hörte ich ihn leise sagen: „Ist auch recht!“

Am Anfang freilich, wenn ich sah, daß er neue Freunde hatte, gab es mir einen Stich im Herzen. Aber auch das gab sich mit der Zeit. Meine Welt war entgöttert. Ich hatte das Vertrauen in die Menschen verloren, hatte sie hassen und verachten gelernt. Nie wieder hatte ich einen Freund.

Unlängst mußte ich in alten Pamilienpapieren nach einer Urkunde suchen. Auf dem Speicher stand ein Schrank, angefüllt mit alten Papieren, Briefen und Andenken. In einem Bündel, wohlverschnürt, fand ich meine Schulhefte. Mein gestrenger Vater hatte sie sorgfältig geordnet, ich erkannte seine steile korrekte Handschrift auf dem Umschlag: „Schulhefte meines lieben Jungen“, stand darauf. Etwas schnürte mir schmerzlich die Kehle zusammen, als ich das las. In der Tiefe einer Schublade lag eine mit dem Petschaft meines Vaters versiegelte Schachtel. Als ich sie aufmachte, fand ich darin die Markensammlung — meine Markensammlung, die mir vor mehr als dreißig Jahren abhanden gekommen war.

Jetzt begriff ich alles. Als ich damals krank zu Bett lag, hatte man meine Sammlung gefunden, und mein gestrenger Vater hatte sie beiseite getan. Wohl nur aus Sorge und Liebe für mich. Aber er hätte das nicht tun sollen. Ich sehe ihn noch vor mir, den Vater mit seinem würdigen grauen Bart. Und noch ein anderer taucht aus dem Nebel des Vergessenseins vor mir auf: der Loisl, der strahlende, zerzauste Loisl! Grundlos hatte ich ihn verworfen, hatte ich meine Kindheit verloren, war hart und vereinsamt geworden, pflichtgetreu und musterhaft korrekt. Wie anders hätte mein Leben sein können. So viel Begeisterungsfähigkeit, so viel Abenteuerlust lag in mir. so viel Liebe und Ritterlichkeit, so viel Phantasie und Vertrauen, ,so viele Träume und Ideale.

Da liegen sie nun vor mir, die Marken aus Honduras und Ekuador, aus Kuba und den Philippinen, aus all den Ländern, die ich einst zu bereisen gedachte und die ich nun nie sehen würde. Und an jeder hängt doch ein Stückchen von dem, was hätte geschehen können, aber nicht geschah.

(Berechtigte Uebertragung \on Hans B. Wagenseil.)'

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