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Er wollte einmal eine Rolle spielen

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Wahrscheinlich wollte er einmal eine Rolle spielen. Vielleicht nur eine andere als die ihm zugedacht. Ich habe, nebstbei bemerkt, einen Doctor jur. gekannt, der sich bei einer Gelegenheit für einen Doctor med. ausgab. Fast hätte die Sache ein böses Nachspiel gehabt.

Es war im Jahre 1919. Eine halbe Stunde vor Abfahrt war der Zug Innsbruck—Salzburg überfüllt wie alle Züge damals. In das Stimmengewirr hinein erscholl plötzlich vom Eingang her eine Stimme: Kontrolle, Personalausweise vorbereiten.

Sofort war es totenstill. Jeder holte sein Papier hervor und hielt es bereit in der Hand.

Das Kontrollorgan war in Zivil. Er war klein und etwas verwachsen und schien dieses Manko durch bewußt stramme Haltung ausgleichen zu wollen. Er hatte übrigens gar kein Polizeigesicht,, wenigstens nicht von Natur aus. Wenn er einmal eine Amtsmiene zeigte, so verschwand sie sofort wieder. Aber wir hatten doch alle Angst oder doch ein Gefühl der Unsicherheit. Die Kontrolle verlief rasch, kaum gesehen, gab er mir den Ausweis zurück. Nur bei meinem Nachbar dauerte es etwas länger. Aber auch bei ihm gab es keinen Anstand. In überströmender Dankbarkeit bot der Mann dem Kontrollor eine gestopfte Zigarette an. (Man weiß, was damals eine Gestopfte war, das heißt niemand wußte, was darinnen war.) Der Kontrollor lächelte und zog sein goldenes oder vergoldetes Etui und bot meinem Nachbar eine Zigarette an. Ich traute meinen Augen nicht (und vielleicht hatte ich mich getäuscht): die Zigaretten in dem goldenen oder vergoldeten Etui hatten goldenen Aufdruck. Sie stammten also aus der Vorkriegszeit. —

Schwieriger war es bei einem alten Weiblein, das gar keinen Ausweis hatte. „Idi habe geglaubt, weil ich nur bis Hall fahre .. ., stotterte sie. „Das ist gleidi-gültig, wie weit Sie fahren“, sagte der Kontrollor strenge. Dann überlegte er geraume Zeit, schließlich ging er zum nächsten. „Darf ich mitfahren?“ wagte das Weiblein zu fragen. Er nickte nur. Irgendwie streckte sie die Hände aus, eine halbe, unentschlossene Bewegung, als ob sie die seinen ergreifen wollte. Es ging etwas wie warme Rührung durch das Abteil.

Die Stille dauerte noch an, als der Mann den Zug verlassen hatte und zwei Polizisten in Uniform eingetreten waren. „Wurden hier die Personalausweise abverlangt?“ fragte der eine. Ja, es war eben einer dagewesen in Zivil. Ob er Geld oder Sachgegenstände abgenommen habe. „Nein, im Gegenteil“, sagte der Mann an meiner Seite, „geschenkt hat er mir eine Zigarette.“ „Was der Kerl nur beabsichtigt?“ sagte der eine von den beiden Polizisten im Gehen halblaut zu dem anderen. :

Wir sandten ihnen giftige Blicke nach.

Die Polizei war immer hinter ihm her, was so viel heißt, wie daß sie immer erst kam, wenn der falsche Kontrollor schon wieder fort war.

Nein, die Polizei hat ihn nicht entlarvt. Das kam ganz anders. Nachdem man längere Zeit nichts mehr von ihm gehört hatte, betrat der „Kontrollor“ eines Abends einen Personenzug in Hall und verlangte die Vorweisung der Personaldokumente. Bevor er noch eines ergriffen hatte, rief eine Stimme aus der dunklen Ecke des schwachbeleuchteten Abteils: „Ja, grüß dich, Adi!“

Einen Augenblick stand der also Angesprochene wortlos da, dann machte er rasch kehrt und verschwand.

Verschwand und nie mehr hörte man etwas von ihm.

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