Brüder Goncourt.jp - © Foto: Getty Images / Apic

„Goncourt: Blitzlichter“: Jagd nach der Wahrheit des Augenblicks

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Sie lebten im Gleichklang, sie spotteten im Gleichklang: Edmond und Jules de Goncourt. Die Tagebücher der Brüder geben Einblicke in die Welt der Pariser Kulturszene und zeigen ein Sittenbild der Gesellschaft.

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Sie lebten im Gleichklang, sie spotteten im Gleichklang: Edmond und Jules de Goncourt. Die Tagebücher der Brüder geben Einblicke in die Welt der Pariser Kulturszene und zeigen ein Sittenbild der Gesellschaft.

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Mit den Brüdern Goncourt sei es ein bisschen wie mit Coca-Cola, meinte unlängst Pierre Ménard, einer ihrer Biografen: Jeder kenne diesen Namen, und zwar durch Frankreichs prestigeträchtigsten Literaturpreis, den Prix Goncourt, wer genau aber hinter dem Namen stecke, sei schon weniger bekannt.

Edmond und Jules de Goncourt sind Monumente des Pariser Literaturbetriebs. Ihr Wirken fiel in die Zeit des Second Empire und der frühen Dritten Republik. Die symbiotisch verbundenen Brüder (Spitzname: „Juledmond“) teilten die Wohnung und manche Geliebte, stimmten in ihren Anschauungen überein und schrieben meist „vierhändig“. Sie verfassten Werke zur Kunst- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts sowie Biografien über Marie Antoinette oder Madame de Pompadour. Als Romanciers begründeten sie mit „Germinie Lacerteux“ den Naturalismus. Zu großer Berühmtheit gelangten Edmond und Jules de Goncourt aber durch ihr 22-bändiges „Journal“, im Untertitel „Mémoires de la vie littéraire“. Die Aufzeichnungen begannen am 2. Dezember 1851, dem Tag des Staatsstreichs von Louis Napoléon (später Kaiser Napoléon III.). Jules führte die Feder, erlag jedoch 1870 den Folgen der Syphilis. Edmond setzte die Arbeit bis an sein Lebensende fort. Er starb im Jahr 1896.

Die deutsche Autorin Anita Albus hat „Blitzlichter“ (Titel) aus den Tagebüchern zusammengestellt, übersetzt und benachwortet (Die Andere Bibliothek, 1989). Der Auswahlband wurde nun bei Galiani neu aufgelegt. Das erste Blitzlicht fällt auf Tout-Paris, das sich im Bois de Boulogne zum Pferderennen einfindet. Darunter der Großbankier Pereire, der Stadtplaner Haussmann und all die feinen Damen: „Eine Sippschaft uneleganter, fast provinzieller Menschen, ermattet ohne die Vornehmheit eines ermatteten Geschlechts. (…) Niemals hat man sich mehr zur Schau gestellt, mehr geprahlt (…).“

Zwischen Prunksucht und Heuchelei

Das „Journal“ ist das Sittenbild einer Gesellschaft im Kapitalismus- und Fortschrittstaumel, zwischen Prunksucht, Zügellosigkeit und Heuchelei. Und es bietet ein gewaltiges Zerrbild der Literaturszene. Ins Rampenlicht rücken nebst Literaten und Künstlern illustre Exzentriker der Aristokratie, Politiker und Bankiers, Salonnieren, Kurtisanen und Dienstboten. Die Goncourts lauerten dem Sein hinter dem Schein auf, der flüchtigen Wahrheit des Augenblicks; das schien jede Indiskretion zu rechtfertigen. Ihrem Authentizitätsanspruch widersprach es dabei nicht, auch aus der Gerüchteküche zu schöpfen.

Die auf ihre adelige Herkunft stolzen, dank Erbschaft vermögenden Brüder frönten einem unabhängigen Künstlerleben. Sie waren passionierte Kunstsammler und Habitués der Salons. Tagtäglich brachten sie ihre taufrischen Impressionen zu Papier: mit Esprit und stilistischem Schliff, mit Lästerzunge und Ressentiment. Sie nahmen sich alle Freiheiten, zumal sie eine posthume Veröffentlichung der Tagebücher vorsahen. Das sollte eine Stiftung besorgen, die Académie Goncourt, deren Gründung Edmond per Testament verfügte. Doch schon 1885 begann er mit der Publikation entschärfter Auszüge, zunächst im Figaro, danach in Buchform. Für viel Erbitterung der Porträtierten und öffentliche Empörung reichte dies noch lange. Die erste unzensierte Gesamtausgabe erschien 1956 ‒ im Paris-fernen Monaco.

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