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In seiner letzten Lebenszeit hat, wie Werner Bergengruen im Vorwort mitteilt, Reinhold Schneider diese letzte Lese aus seinem Lebenswerk zusammengestellt: Aufsätze, Reden. Betrachtungen, Tagebuchnotizen aus seinen letzten Jahren. Der Dichter wollte in diesem Frühjahr nach Rom, um dort das Vorwort zu dieser Sammlung zu schreiben. „Pfeiler im Strom“: Bergengruen denkt mit hohem Recht, daß Reinhold Schneider hier die Pfeiler der ämilianischen Brücke vor seinem inneren Auge hat: Pfeiler, die im Strom, in der Geschichte, im Ungetüm der flutenden Wirklichkeit stehen, ohne mehr die Brücke zu tragen. Als solche Pfeiler, die in der Vergänglichkeit sich behaupten, ersieht Schneider hier noch einmal, wie in den schweren Jahren seines eigenen Aufganges, Gestalten aus dem Jahrtausend Alteuropas: Heilige, Büßer, große Sünder und Dichter. Die drei ersten Abschnitte, „Geschichte“, „Dichtung“, „Glaube“, kreisen um diese Themen. Das ist der „alte Schneider“, der Reinhold Schneider, wie ihn sein deutsches Publikum zwischen 1927 und 1950 etwa kennen und lieben gelernt hat. Die drei letzten, umfänglichen Sammlungen, „Gestalten“, „Landschaften und Städte“ und „Erinnerungen“, zeigen jedoch den jungen Reinhold Schneider: den Mann, der da, wie Bergengruen in seiner prächtigen Einführung darlegt, gerade in seinem sechsten Jahrzehnt ein neues Leben begann: in dem, bei voller Gegenwart stets erfahrener Tragik und unlösbarer Schwere der großen Weltkonflikte, das junge, blühende Leben, die Wirklichkeit der kleinen, kostbaren Dinge dieser schönen und schmerzlichen Welt ihn täglich ergriff und entzückte. Immer wieder erinnern wir uns bei diesen Schilderungen seiner Bemerkung aus seinem Wiener Tagebuch: Vielleicht hätte ich in Wien anfangen sollen . .

Mit der Begeisterungsfähigkeit eines reinen Jünglings, der seine Sinne noch unversehrt erhalten hat, offen dem Tau der Frühe, schaut da Reinhold Schneider das spätsommerliche Graz, nimmt Impressionen in Portugal, Spanien, Schweden und in der Heimat Baden-Baden auf. Gleichzeitig, mit demselben liebendem Atem, wendet er sich lebenden Zeitgenossen und Freunden zu: so gehen seine bildstarken Grüße Leopold Ziegler und, Theodor Heuss,

Rudolf Alexander Schröder und Hans Urs von Balthasar, aber auch Annette Kolb und Thomas Mann zu. Hier wird etwas Unersetzliches aus der inneren Werkstatt dieses großen Schweigenden sichtbar: in sein inneres Gespräch nimmt er ja immer wieder Personen herein, die ihm an sich sehr fremd sind, in Gestalt, Weltanschauung, Horizont, und die er meist liebend umschweigt. Hier wird etwas von seinem großen Schweigen Wort. Diese Intimität macht den letzten Reiz dieser letzten Lese aus, die den Leser in eine Atmosphäre versetzt, in der Heiterkeit und Gelöstheit mit der großen Trauer verschmelzen, die aus den großen, treuen Augen — auf dem Umschlagbild — die1“ alten und jungen Freunde des Dichters unvergeßlich anspricht.

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