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Digital In Arbeit

Weihnacht ohne Maske

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Es war einmal ein Mann, der hieß Ernst. Er war schon viermal vorbestraft und nach drei Jahren Strafanstalt in das Arbeitshaus eingewiesen worden. Hier führte er sich gut auf, arbeitete fleißig und wurde nach 18 Monaten vor der Zeit entlassen. Er war willig und wollte wieder ein ordentliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden. Aber vier Monate nach seiner Entlassung mußte er erkennen, daß ihn die Menschen nicht mehr wollten. Er arbeitete von früh bis spät und blieb bescheiden, aber sobald es aufkam, daß er im Arbeitshaus gesessen hatte, weigerten sich die anderen Arbeiter, auch nur noch eine Stunde mit ihm zusammen zu sein. Da mußte er seinen Arbeitsplatz wieder verlassen und sich nach einem neuen umsehen.

Eines Tages, es war knapp vor Weihnachten, fand er keinen mehr. Er wußte zunächst nicht, was er beginnen sollte. Er hatte keine Verwandten und Freunde, bei denen er unterschlüpfen konnte. Schließlich fiel ihm ein Ausweg ein. Er hatte gerade in einem kleinen Gasthaus eine warme Suppe gegessen und dachte nun, daß er jetzt wieder in die Kälte hinausgehen müsse, da sah er einen Koffer in der

Ecke stehen, um den sich kein Mensch kümmerte. Er blickte um sich, und als niemand auf ihn achtete, packte er den Koffer und lief mit ihm auf die Straße.

Noch keuchend von seinem Lauf, trat er in die Polizeistube und meldete seinen Diebstahl.

„Warum haben Sie den Koffer gestohlen?“ fragte der Polizeiinspektor. „Jetzt sind Sie rückfällig geworden. Sie sind doch vorzeitig auf Bewährung entlassen worden. Ich muß Sie wieder ins Arbeitshaus zurückschicken.“

Ernst nickte und blieb stumm.

Der Polizeiinspektor faßte es so auf, daß er da einen verstockten Verbrecher vor sich habe. Aber er wollte mit dem Manne nicht allzu streng verfahren. Weihnachten stand vor der Tür. „Viermal vorbestraft wegen Diebstahls — so“, sagte er. „Sie können allein fahren. Ich gebe Ihnen keine Begleitung mit. Aber wenn Sie dort nicht auftauchen, dann Gnade Ihnen Gott!“ Er sagte das alles nur so, er glaubte nichp daß Ernst schon in den nächsten Tagen im Arbeitshaus sein werde. Der Polizeiinspektor wollte ihm noch eine fröhliche Weihnacht gönnen.

Wohin aber hätte Ernst denn fahren können als nur nach dem Arbeitshaus? Er hatte den Koffer doch nur gestohlen, damit er über die Weihnacht und in den kommenden Wintertagen ein Dach über dem Kopf habe. Er fuhr auch sogleich hin, und am Heiligen Abend kam er an.

Im Arbeitshaus war er schon angekündigt, der Polizeiinspektor hatte es letzthin genau genommen und den Mann sofort gemeldet. Als Ernst in das Wachzimmer trat, begrüßte ihn der diensthabende Justizwachmann mit den Worten: „Nun, da sind Sie wieder! Sie haben sich also nicht bewährt in der freien Welt. Sie kommen in Ihre alte Zelle, zu Willi, Toni, Paul und Beppo, wie ihr ihn nennt.“

Die Vier trauten ihren Augen nicht, als Ernst zu ihnen in die Zelle trat. Sie hatten gerade ihr Leben erforscht gehabt. Willi war ein Mörder im Affekt, etwas cholerisch, sonst aber gut, Beppo hatte eine alte Frau ausgeraubt, Toni aber war noch sehr jung, darum nannten sie ihn auch Baby. Er hatte keine Eltern gehabt und war immer arbeitsscheu gewesen. Und PauL nun, der war ja so phlegmatisch und ein Gewohnheitsdieb.

„Wo kommst du denn her?“ fragte Willi.

„Aus Judenburg", sagte Ernst.

Aus Judenburg? Toni horchte auf. In Judenburg war er geboren, so stand es doch in seinem Taufschein.

„Ist wieder etwas faul gewesen?" fragte Paul.

Ja, faul war etwas gewesen, aber nicht an dem Heimkehrer Ernst. „Da stimmt etwas nicht“, sagte er. „Ich habe in den vier Monaten fleißiger als je gearbeitet. Ich habe jede Arbeit angepackt. Aber länger als drei Wochen haben sie mich nirgends behalten. Da kam es auf: daß ich im Arbeitshaus gewesen bin. Sie haben dann mit mir nicht mehr arbeiten wollen. Zuletzt habe ich nir gedacht: Was machst du im Winter, wenn dich überhaupt keiner mehr nimmt? Ich wollte wieder ehrlich werden, aber die anderen wollten es nicht. Ich habe sogar darum gebetet."

Sie sahen ihn an.

„Gebetet hast du darum?" fragten sie.

„Ja, um Arbeit. Aber es war nichts zu machen. Und da habe ich den Koffer gestohlen. Und dann habe ich ihn bei der Polizei abgegeben und mich selbst angezeigt. Ich habe es getan, weil sie mich nicht mehr haben wollten. Wißt ihr, sie reden alle vom Verzeihen und sind so großartige Christen, aber wenn es auf ein Beispiel ankommt, dann werden sie so vernünftig, daß einem grausen kann."

„Und da haben sie dich wieder ins Arbeitshaus zurückgeschickt“, sagte Willi. , ,.

„Ja. Ich bin allein gefahren, Bei mir war keine Fluchtgefahr. Mein Gott, so ein armer Teufel wie ich, wohin sollte der auch flüchten! Und wofür? Ich frage euch, wofür? Ich würde noch nichts gegen die Menschen sagen, wenn nicht Weihnachten wäre. Aber es ist doch Weihnachten.“

Sie schwiegen alle eine Zeit, dann aber sagte Beppo in ihre Stille hinein: „Der Mensch ist . gut.

„So, der Mensch ist gut“, versetzte Ernst. „Du bist heute ja sehr gnädig mit den Menschen, die uns nicht mehr haben wollen und die nie verzeihen können. Da ist ja Gott nicht einmal so hart und so verstockt gegen uns wie die Menschen, die uns nicht verzeihen und immer nur richten und strafen.“

„O nein“, sagte Beppo, „sie Verzeihen. Mir hat die alte Frau verziehen, die ich ausgeraubt habe. Sie hat mir vor ein paar Tagen einen Brief geschrieben, daß sie mir verzeiht. Und so wird es tausend und aber tausend Menschen geben, die verzeihen wollen, überall auf Erden werden viele sein, die es tun wollen. Denn das Verzeihen erhebt sie ja erst zu Menschen.“

„Diese Frau ist wirklich fromm“, sagte Ernst nach einer Weile. „Für sie wollen wir die Kerzen am Baum anzünden. Ich habe euch nämlich aus Judenburg ein Tannenbäumlein mitgebracht. Wir wollen doch auch Weihnachten feiern, auch wenn die Menschen uns nicht haben wollen und uns ausstoßen. Toni soll die Kerzen anzünden. Weil er aus Judenburg stammt.“

„Ich werde die Kerzen anzünden, ja“, sagte Toni strahlend. „Ich habe noch nie Weihnachten gefeiert. Und mit einem Bäumlein aus Judenburg, meinem Geburtsort, muß es doppelt so schön sein.“

So haben die Vier mit dem Heimkehrer Ernst Weihnachten im Arbeitshaus gefeiert. Ernst wollte das Fest anderswo feiern, aber die Menschen verwehrten es ihm, weil sie ihm nicht verzeihen konnten, so ehrlich und anständig er auch war und so fleißig er arbeitete. Aber er war ihnen nicht böse. „Nein“, sagte er, nachdem die Kerzen niedergebrannt waren, „das könnte ich nicht. Da würde ich in denselben Fehler wie die Menschen draußen verfallen und hart in meinem Herzen sein. Da wäre ich ja kein Christ.“

Und da war ihnen allen so, als sei Ernst der Engel, den Gott ihnen geschickt hatte, daß auch sie gesegnete Weihnachten versnürten.

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