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Digital In Arbeit

Abenteuerliche Reise der Menschenrechte

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Es war einmal ein heißer Junitag. Die Fernsehapparate liefen heiß, und auch die Menschenrechte hatten eine hitzige Debatte. „Was gibt's denn schon wieder?“ brüllte eine Stimme von draußen, „Könnt ihr nicht einmal ein bißchen ruhig sein?“ Die Menschenrechte schwiegen betroffen, denn sie kannten die Stimme der Vernunft genau.

„Daß ihr immer streiten müßt! Als ob ihr euch nicht miteinander vertragen könntet! Geht wenigstens ihr mit gutem Beispiel voran! Stellt euch vor, wenn euch jemand zuhört!“ sagte die Vernunft vorwurfsvoll. „Ach was“, erwiderte das Recht auf freie Meinungsäußerung, „wer beachtet uns denn schon?“ und die anderen Menschenrechte, die sich in einer Ecke verkrochen hatten, nickten kleinlaut.

„Egal“, erklärte die Vernunft, „ihr sollt euch trotzdem nicht streiten, mir zuliebe wenigstens. Was ich für Sorgen mit euch habe! Alle Mühe gebe ich mir, auf euch aufzupassen, und trotzdem sind jeden Tag ein paar von euch verletzt! Und jetzt werdet ihr euch womöglich noch gegenseitig die Schädel einschlagen!“

„Beruhig dich doch!“ forderte das Recht auf Menschenwürde von der Vernunft, „Wir haben doch bloß debat-

tiert.“ - „Jawohl, debattiert!“ versicherte das Recht auf politische Selbstbestimmung, „Uber Argentinien, wenn du es genau wissen willst.“

„Argentinien ...“, seufzte die Vernunft und war der Ohnmacht sehr nahe. „Dreh doch“, flüsterte das Recht

auf Bildung dem Recht auf Arbeit zu, „den Fernsehapparat ab! Du weißt doch: diese Fußballübertragungen machen sie immer nervös!“

,J£s wird ja jetzt so viel über uns geschrieben“, begann das Recht auf Pressefreiheit, „und da haben wir gedacht ...“ - „Wir wollen“, platzte das ungeduldige Recht auf politische Selbstbestimmung dazwischen, „nach Argentinien fahren!“

„Seid ihr wahnsinnig geworden?“ rief die Vernunft entsetzt, „Das hat gerade noch gefehlt, daß ihr euch dort blicken läßt!“ - „Aber...“, wollte das Recht auf politische Selbstbestimmung sagen, als ihm das Recht auf Erziehung ins Wort fiel: „Sie meint es nicht so. Sie hat Angst um uns und sie fürchtet, daß wir in Argentinien auf der Strecke bleiben. Stimmt's?“ Die Vernunft nickte.

„Das ist ja genau das Problem!“ do-

zierte das Recht auf Bildung, „Wenn wir dort nicht präsent sind, wird uns sicher nichts zustoßen. Aber die Dialektik liegt meines Erachtens andererseits darin, daß wir hinfahren müssen, um wenigstens ...“ - „Was gehen euch eigentlich Fußballspiele an? Habt ihr

nicht anderswo genug zu tun“, fragte die Vernunft.

„Ich bin ja gleich von Anfang an da-gegengewesen“, beeilte sich das Recht auf Freizeit und Erholung zu erwidern und blickte treuherzig, „ich schaue mir alles lieber am Fernsehapparat an.“ -„Banause!“ rief das Recht auf Bildung giftig, und das Recht auf politische Selbstbestimmung ballte die Fäuste: „Na warte, dir werd' ich's zeigen, du Zuhälter des Faschismus!“

„Kinder, Kinder! Ihr sollt euch nicht streiten“, sagte die Vernunft, „ihr müßt zusammenhalten, begreift ihr das nicht?“ Und weil die Menschenrechte gewohnt waren, auf die Stimme der Vernunft zu hören, waren sie sofort friedlich.

„Also dann! Auf nach Argentinien! Im Namen der Humanität!“ rief das Recht auf Menschenwürde pathetisch. „Iura et circenses!“ frohlockte das

Recht auf Bildung. „Du blöder Klugscheißer!“ zischte das Recht auf Freizeit und Erholung, war aber sofort still, als die Vernunft strafend blickte.

„Ich kann euch nicht aufhalten“, sagte die Vernunft, „wenn ihr in Argentinien etwas zu suchen habt. Hof-

fentlich findet ihr auch etwas! Eines möchte ich euch noch sagen: Paßt auf euch auf und macht mir keine Schande! Und geht nicht direkt auf das Spielfeld, sonst werdet ihr gleich überrollt!“

„Wir werden's schon schaffen!“ versicherte das Recht auf Arbeit optimistisch, und die Vernunft sagte traurig: ,Jhr werdet allein sein. Leider kann ich euch nicht begleiten. Ich bin so groß, daß ich durch die Menge nicht durchkomme!“ - Macht nichts“, sagten die Menschenrechte, „was nicht ist, kann noch werden! Auf Wiedersehen!“

Und so machten sich denn die Menschenrechte auf nach Argentinien. Hinzukommen war nicht schwer, denn auf einem Blatt Papier im Gepäck eines Fußballers konnten sie alle schön nebeneinander stehen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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