6572892-1950_28_14.jpg
Digital In Arbeit

Orisori

Werbung
Werbung
Werbung

Seit einiger Zeit geht es mir wunderlich. Ich stehe zwar auf wie immer, ziehe mich an wie immer, schlüpfe in die Stiefel, nehme die Peitsche zur Hand und mache meinen Rundgang wie immer. Darin hat sich also nichts geändert. Auch äußerlich bin ich derselbe geblieben, ohne Zweifel. Ich bin überzeugt, daß dreißig Werst im Umkreis jeder Mensch derselben Meinung ist. Die Leute grüßen mich auch alle mit dem alten Respekt, ziehen nach wie vor den Hut bis auf den Boden vor mir, und die Kinder verschwinden wie immer hinter den weiten Schürzen der Mütter, wenn ich des Weges komme. Daran liegt es also auch nicht. Woran aber dann, hm? Und wie kommt es, daß ich jetzt manchmal unterwegs stehenbleibe und mir unnütze Gedanken mache? Uber den Vogel in der Luft zum Beispiel oder über die Blume in der Wiese oder über mich selber?

Früher war ich mir über diese Dinge völlig im klaren, ja, sie machten mir ganz und gar kein Kopfzerbrechen. Ich teilte sie einfach in nützliche und unnütze Dinge ein, damit bastal Ein klarer Fall, wenn man es so nimmt.

Aber das ist es eben, ich nehme es nicht mehr so! Ich bleibe jetzt leider unterwegs öfter stehen und denke darüber nach, was überhaupt nützlich und was unnütz ist. Zum Beispiel denke ich darüber nach, ob eine Blume mehr ist als schlechtes Heu und ob ihr Nutzen mit dem Besuch der Biene auch wirklich erschöpft ist. Ich schaue sie doch schließlich gerne an, erfreue mich ihrer Farbe oder ihrer hübschen Formen, ja, ich schnuppere sogar mit Vergnügen daran, wenn sie wohlriecht, und bin ihretwegen mitunter entzückt. Ist das nun nützlich oder unnütz? Es ist wahr, es bleibt mir davon nichts in den Händen zurück, aber ...

Oder ich denke darüber nach, ob ein Glas Wodka dem Menschen mehr zu nützen vermöge als etwa ein schönes Geigenspiel. Auch die schöne Melodie ist mit dem letzten Bogenstrich verklungen, daran ist nicht zu zweifeln. Und doch kann ich nicht sagen, daß damit alles zu Ende sei, nein. Irgendwie bin ich ihr auch nachher noch verhaftet, es bebt mir ihretwegen vielleicht noch das Herz, oder ich bin ihretwegen sogar bis zu Tränen gerührt. Gewiß, auch da bleibt mir nichts in den Händen zurück, aber ...

Ja, dergleichen Dinge denke ich jetzt, es ist fürchterlich! Bin ich überhaupt noch der alte Wassili Perfischka, Diener und Gehilfe des großen Kapitän Nikolai Ssemnjonow bei der Erneuerung unseres Dorfes Sbirsk? Ich bezweifle es, wahrhaftig! Oh, ich bin gewiß ein wenig angefault im Innern, ein wenig verrückt im Kopfe, anders ist es gar nicht zu verstehen.

Und dann diese lächerliche Schwatzsucht, an der ich seit einigen Wochen leide. Ich komme mir vor wie ein Bach, der nur mit großer Mühe gestaut werden kann. Einem jeden Menschen möchte ich zulaufen und ihn bitten, daß er mich anhöre. Und das, nachdem ich jahrelang geschwiegen habe, ja, viele Jahre lang. Nur gut, daß Nikolai Ssemnjonow mich das Schweigen gelehrt hat, das ist besser als plappern. Dem Plapperer geht gerne das Herz auf und der Mund über, es kommen dann Dinge zum Vorschein, die besser verborgen blieben, ich spüre das.

Ich denke da vor allem an eine Sache, die mich betrifft, mich ganz allein und sonst niemand. Vielleicht, daß sie auch noch Pawel betrifft, ja, Pawel vielleicht, der dabei um seinen Hund kam; aber sonst niemand. Und Pawel kann froh sein, daß es der Hund war und nicht Annuschka, das kleine rothaarige Ding. Meine Wut damals war leider so groß, daß ich nichts mehr vor meinen Augen sah und nur noch blindlings und rasend auf das Nächste vor mir einschlug. Und das war glücklicherweise Pawels Hund und nicht seine kleine Annuschka.

Eigentlich wollte ich Grigori treffen, Grigori den Mönch, diese einfältige Ziege mit dem langen dünnen Bart am Kinn und dem silbernen Kreuz auf der Brust; er war nur nicht zugegen. Oder doch Annuschka? — Ach, was weiß ich, vielleicht wollte ich alle drei zusammen vernichten, das ist leicht möglich.

Ich verstehe Pawel sehr gut, wenn er seither den Rücken vor mir noch mehr krümmt und dabei wie ein Halm im Winde zittert. Auch seinen schiefen Blick verstehe ich, o ja, und seinen schweigend verkniffenen Mund. Sie sagen beide so Schlimmes von mir, daß ich ihn deswegen hängen lassen könnte. Warum aber tue ich das nicht? Warum lasse ich ihn nicht hängen? Hm? Das ist es eben! Ich hätte viel eher Lust, vor Pawel hinzutreten und zu sagen: Siehst du, Pawel, es ging ja nicht um deinen Hund oder um deine Annuschka, ach nein, es ging darum, wer

Herr im Dorfe sei, ich oder Grigori, verstehst du? Nur darum ging es! Daß dein Hund dabei zu Schaden kam, tut mir leid, Pawel; sei nur froh, daß es nicht Annuschka war, das hätte leicht sein können. Warum steckt Annuschka mir aber nicht auch Blumen in den Bart wie diesem Grigori? Bin ich es nicht wert? — Ich bin dein Kommissar, Pawel, ich kann dich vernichten, mußt du wissen, und nicht nur dich, auch deine Annuschka und Grigori, ja das ganze Dorf, wenn es sein muß. Bin ich diese paar Blumen also nicht wert?

Ja, so möchte ich zu Pawel sprechen und ihm zeigen, daß Grigori an allem schuld ist; leider kann das nicht sein.

Natürlich würde Pawel sich hierauf bemühen, gleich ein ganzes Bündel Blumen zu pflücken und Annuschka beauftragen, damit zu mir zu kommen,-aber das wäre nicht dasselbe. Grigori hat ganz gewiß auch keine Blumen verlangt, als das kleine rothaarige Ding ihm den langen dünnen Bart flocht und einige Kuckucksnelken darein steckte, o nein. Er hat sich ganz gewiß nur in seiner stillen Weise in das Gras gesetzt und kindlich vor sich hingelächelt. Und das war genug.

Man muß das übrigens gesehen haben, wie ich es gesehen habe. Grigori kam damals mit Annuschka über Akims Wiese neben dem Bach herab. Es standen dort noch die blauen Türmchen des Günsel im hohen Gras, die gelben Krönchen der Wolfsmilch wippten daneben im Winde und auch die dunkelsamtene Ochsenzunge blühte schön und unverhüllt. Grigori achtete bei jedem seiner Schritte der hübschen Gewächse und ging sanft und behutsam zwischen den Rispen hindurch, als rühre er an Menschenleiber. LTnd auch Annuschka wies er an, desgleichen zu tun. Ich sehe das alles noch klar vor mir, ja, ich sehe ihn noch immer langsam über die Wiese schreiten und den Weg zu einer kleinen Anhöhe nehmen, sehe ihn sich niederbücken und sich wieder aufrichten und sehe schließlich auch die hellen, sich wiegenden Falter noch immer vor mir, die ihn dabei beharrlich begleiteten. Auch das ist mir noch klar, daß es ein lächerliches Bild war, als er mit den Blumen im Barte im Grase saß, gewiß, ein sehr lächerliches Bild sogar. Aber es hätte mich keineswegs gewundert, wenn außerdem ein Vogel herzugeflogen wäre und sich auf Grigoris kahlem Mönchsschädel niedergelassen hätte, um dort ein Lied anzustimmen. Denn nicht nur die Herzen der Menschen, auch die Tiere halten es mit ihm. Das ist die Wahrheit.

Ich will Grigori in keiner Weise loben oder ihn auf eine versteckte Weise her-“ vorheben, nein, wer schneidet sich schon selber in den Finger? Wollte ich das, so hätte ich ihm in Stjopas Stube mein Wodkaglas gewiß nicht an den Kopf geworfen. Ja, das habe ich getan! Es ist wahr, ich hatte vorher ein wenig getrunken, ich gebe auch zu, daß Grigori zuerst nicht in der Stube war, aber später stand er ohne Zweifel im Winkel hinter der Ikone und sah unentwegt nach mir. Er wartete sichtlich auf mich, ja, er lächelte dabei geduldig vor sich hin, Stjopa sah es nur nicht. Oh, ich hielt ihm lange stand, wirklich, aber schließlich war es zuviel, es machte mich rasend und so schlug ich die Ikone in Scherben.

Stjopa tut mir leid. Es war eine schöne Ikone, und er hielt große Stücke auf sie. Als seine kleine Grunja einmal sterben wollte, sagt Stjopa, legte er das Würmchen vor die Ikone hin, da wurde es wieder frisch und munter. Ja, Stjopa tut mir wirklich leid. Ich weinte auch mit ihm, als er vor den Scherben stand, mehr noch, ich umarmte und küßte ihn sogar. Stjopa, sagte ich, du mußt mich verstehen, ein solches Lächeln erträgst du auf die Dauer nicht, das hältst du nicht aus. Was will diese Ziege überhaupt von mir, he? Worauf wartet sie? Siehst du, Stjopa, da gibt es nur eines: entweder du folgst Grigori nach oder du schlägst ihn, ein anderes gibt es nicht. Ich habe ihn geschlagen, verstehst du, Stjopa? Ich! Oh, ich wehre mich!

Ja, so sagte ich. Aber das dumme Vieh verstand mich nicht, nein, es verstand mich ganz und gar nicht, es klotzte immer nur traurig vor sich hin und seufzte dabei erbärmlich. Es verstand wohl nicht einmal, daß Grigori allein an seinem Unglück schuld war.

Eigentlich sollte man Grigori dafür bestrafen, und nicht nur wegen Stjopas Ikone, nein, auch Pawels Hund wegen, ja sogar seines stillen, zarten Wesens wegen, mehr noch, man sollte ihn samt seinem einfältigen Lächeln, seinem langen dünnen Bart und seinem silbernen Kreuz auf der Brust kurzerhand vernichten, Ja, das sollte man. Wie aber bestraft man Kinder?

Oh, ich könnte hingehen zu Grigori und etwa folgendes sagen: Väterchen, du hast nun genug gefaulenzt, ich bitte dich, mache dich nun ein wenig nützlich. Wie? Du verstehst mich nicht? Auch nicht, wenn ich dir sage, daß ich dein Kommissar bin? Siehst du, nun verstehst du mich! Höre also, Väterchen, der Starost

Akim braucht einen Pferdeknecht. Mach Ordnung in deiner Kirche und wirf die Betstühle heraus; Akims Pferde brauchen ein wenig Platz, mußt du wissen, sie sind nützliche Tiere und sollen ihn haben.

Ja, so könnte ich sagen.

Die Pferde hätten es übrigens gut bei Grigori, daran ist nicht zu zweifeln. Allerdings, so wie ich ihn kenne, stände er in jeder Nacht gewiß einige Male auf, um sie ins Freie zu führen, so wie man Hunde von Zeit zu Zeit ins Freie führt, damit sie das Zimmer nicht beschmutzen.

Wie gesagt, ich könnte manches mit Grigori machen. Aber was hülfe das schon? Die Kulaken und Kinder hielten dennoch zu ihm, und ihnen wäre es wohl völlig gleichgültig, 'ob er nun nach Weihrauch oder Pferdemist röche.

Immer wieder frage ich mich, woran das liege und woher es komme, daß gerade Grigoris leise und demütige Art imstande ist, alles zu unterjochen. Das ist auch so eine Sache, worüber ich mir jetzt öfter den Kopf zerbreche. Aber ich mag mir den Verstand zerquälen, wie ich will, ich finde einfach keine Antwort darauf. Warum nur laufen sie also Grigori nach, Grigori, dieser einfältigen Ziege? Warum nur? Sehen sie nicht, daß ich es bin, der für sie sorgt, der für sie denkt, der ihnen Samen und Maschinen verschafft und dies und jenes für ihren Leib und ihren Verstand tut? Nein, sie sehen es nicht! Sie sehen nur Grigori, der nichts für sie tut, Grigori, der nur sanft lächelt und ihnen das silberne Kreuz zum Kuß darreicht.

Konnte Annuschka also anders sein als sie alle? Nein, nein, sie konnte gar nicht anders sein, ich wollte es nur nicht glauben. Als ich dem kleinen rothaarigen Ding damals mit dem Hunde auf der Wiese begegnete, dachte ich sogleich an jenes lächerliche Bild, als Grigori mit den Blumen im Bart dasaß. Ach, dachte ich, es ist wohl lächerlich, ja, sehr lächerlich sogar, aber probiere es auch einmal und setze dich in das Gras, niemand sieht dich, und Annuschka ist noch zu klein, um sich darüber Gedanken zu machen. Ich setzte mich also wirklidi ins Gras. Annuschka, sagte ich dann, Annuschka, mein Täubchen, setze dich zu mir! Sieh, da herum die vielen bunten Blumen, geh, geh und bring mir davon ein Händchen voll!

Aber Annuschka setzte sich nicht zu mir, sie brachte mir auch keine Blumen, nein, sie sah mich nur mit großen, starren Augen an und begann schließlich zu weinen. Siehst du, da erschlug ich denn Pawels Hund!

Immer frage ich mich, was hätte wohl Grigori an meiner Stelle getan? Ach, das ist es eben! Er hätte gewiß nur still vor sich hin gelächelt und geduldig gewartet, mehr noch, er wäre wohl selber aufgestanden und hätte Annuschka Blumen gebracht.

Ja, das ist es eben! Man müßte wie Grigori sein, man müßte wie er kindlich lächeln und so wie er behutsam zwischen die Rispen der Blumen auf Akims Wiese hindurchgehen können. Ich kann es leider nicht, ich mag es anstellen, wie ich will, vor meinen Schritten erzittert der geringste Halm am Wegesrand. Denn könnte ich es, dann stände ich wie

Grigoii hinter der Ikone in der Stube und wartete gleich ihm geduldig und lächelnd, ob nicht doch dieser oder jener seine groben Stiefel auszöge und leise zu mir herangeschritten käme.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung