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Ich lese gerne. Sehr gerne sogar. Eine der schlimmsten Situationen, die ich mir vorstellen kann: Ich sitze irgendwo herum, habe viel Zeit, aber nichts zu lesen dabei. In den letzten Jahren ist mir diese beklemmende Vorstellung freilich immer seltener in den Sinn gekommen, hat sich allmählich gar in ihr Gegenteil verwandelt: Ich möchte nicht ständig lesen müssen; wünsche mir manchmal nichts sehnlicher, als ein paar Augenblicke optischer Ruhe!

Ich spreche von den Aufschriften auf Kleidungsstücken: Diesen unerwünschten Botschaften auf T-und Sweat-Shirts, auf Jeans und Pullis, auf Hosen, Hemden und Jacken.

Vergleichsweise harmlos fing es an. Nachdem die Menschheit Jahrtausende unbeschriftet in anonymer Kleidung durchlebte (selbst Maßschneider versteckten ihre Firmenlogos in den Innenseiten der Kleidung), machten - wenn ich mich recht erinnere - die Polohemdenhersteller den Anfang: Auf einmal war es Mode, mindestens ein Tier auf dem Hemd zu tragen.

Gut, an die Krokodile und Pumas, die Schildkröten und Känguruhs, an den ganzen Modezoo eben, konnte man sich gewöhnen; das hielt sich alles noch in erträglichen Grenzen.

Bald darauf ging es erst richtig los: Der Hersteller, der glaubt, für die YOUNG GENERATION zuständig zu sein, schreibt - an Selbstvertrauen oder Frechheit mangelt es nicht - mit Riesenlettern seinen Namen auf Brust und Rücken seiner jungen Kundschaft. Jeder soll, nein, muß es sehen: Hier hat einer BENETTON sein Vertrauen (und sein Taschengeld) gegeben. Der dort hat sich für BOSS entschieden; seine Sache. Aber ich muß es, selbst wenn ich zwei Blocks entfernt bin, zur Kenntnis nehmen.

Du da, du trägst MUSTANG-Jeans, wie ich lese; und die Dame? Aha, sie bevorzugt LEVIS; vergleichsweise bescheiden, das kleine Fähnchen an der Gesäßtasche. Man kann es von der anderen Straßenseite ja gar nicht erkennen. Stimmt womöglich etwas nicht mit der Firma?

Und da, die Dame in der Konditorei mit den Großstücken am Kuchenteller und Übergewicht am ganzen Körper: Was vermittelt sie uns für eine Botschaft? Oh, SUR-FING GIRL steht auf ihren giganti-schen Brüsten. Moby Dick läßt grüßen! Das Surfbrett möchte ich sehen, von dem die Mutter nicht abkippt und wegtaucht wie eine Bleiente.

Wen haben wir denn dort? Einen modischen Spät-Twen mit Toupet und windschnittigem Bierbauch; offensichtlich ein Kollege von Don Johnson, wenn nicht gar Sonny Crocket himself: MIAMI VICE knallt es in Pink von der mächtig geblähten Oberweite.

Er wird locker ausgestochen von dem schmalbrüstigen Intellektuellentyp, die kurzsichtigen Augen hinter zentimeterdickem Brillenglas, das schmale Gesichtchen unter einem Rauschebart Modell ,Karl Marx, selig' versteckt. Er ist, wenn ich der Schrift auf seinem Sweat-Shirt glauben darf, CHIEF OF SPORTING TEAM der CAMBRIDGE UNIVERSITY, allerdings - feiner Unterschied! - nicht der in England, sondern der etwas weniger noblen in den UNITED STATES OF AMERICA.

Übertroffen aber werden sie alle von dem modernen Großstadt-Neandertaler, der mir neulich über den Weg lief: Ein Typ, der wahrscheinlich beim Lesen die Lippen bewegt und mit dem Finger die Zeilen langfährt; den voll aufge-dröhnten Ghetto-blaster auf der Schulter, der sich aber auf seiner Bomberjacke den Aufdruck E = mc2 leistet. (Albert, verzeih uns!)

Ich sagte schon oben: Ich lese gerne. Sehr gerne sogar. Ich ziehe es allerdings vor, meinen Lesestoff selbst auszuwählen.

NB: Alle zitierten Aufschriften notiert an einem Nachmittag in der Fußgängerzone der Stadt P.

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