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„Ereignisse“

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Der Professor ist über dem Studium der Schmetterlinge verrückt geworden. Er wird zuerst in die Anstalt gebracht, nach zwei Jahren jedoch wieder entlassen, weil man darauf gekommen ist, daß seine Verrücktheit für die Welt nicht gefährlich ist. Er hat die Eigenart, mit einem Schmetterlingsfänger im Park herumzutänzein, was sehr lustig aussieht, denn der Professor hat eine zierliche Figur. Er nimmt fast keine Mahlzeiten zu sich, und auf seinen Wunsch läßt man in seinem Zimmer eine große schwarze Schultafel aufstellen, auf die er das Wort Freude schreibt. Immer wenn er das Wort Freude darauf geschrieben hat, läutet er dem Anstaltsgehilfen, der es mit einem großen Schwamm wieder auslöschen muß. Jedesmal bekommt er dafür vom Professor eine Münze, so daß er schon einen ganzen Sack solcher Münzen beisammen hat. Als der Professor die Anstalt verlassen muß, worüber er sehr traurig ist, bittet er, man möge das Wort Freude auf der Tafel stehen lassen.

Er werde dem Gehilfen den Befehl zum Auslöschen zu einem Zeitpunkt geben, der noch sehr fem sei. Tatsächlich sind die Angestellten der Anstalt nicht zu trösten, als der Professor abgeholt und auf das Landgut seiner Schwester gebracht wird. Dort kann er sich zwar frei bewegen, aber er lebt nur noch in der Erinnerung an den Aufenthalt in der Anstalt. Alles, was vorher war, hat er längst vergessen. Hier auf dem Landgut, zur Sommerszeit, trägt er weiße und cremefarbene Kleider. Die Bauern machen sich über ihn lustig, wenn sie ihn, den Scbmetterlingsfäniger schwingend, über den Hügel spazieren sehen. Von einem bestimmten Tag an jedoch will er das Haus nur noch in der Nacht verlassen, was ihm seine Schwester und der Hausarzt, die ihr ganzes Dasein ihm widmen, nicht gestatten wollen. Aber er setzt seinen Willen durch. Er sagt, er wolle die Lichter einfangen, jedes Licht, denn es gibt nichts Kostbareres als Licht. Er wollte die Lichter sammeln, sie an einem sicheren Ort aufbewahren und ein Buch über sie veröffentlichen. So spaziert er ungestört durch die Nächte und fängt die Lichter ein. Eines Nachts kommt er auf das Bahngleis. Er hält seinen Schmetterlinigsfänger gegen die beiden rasch größer werdenden Lichter des Expreßzuges. Als sie knapp vor ihm sind, fängt er sie mit einer raschen Bewegung seiner kleinen zusammengepreßten Hände ein.

Der junge Mann versucht einem alten Mann zu beweisen, daß er, der junge Mann, allein ist. Er sagt ihm, er sei in die Stadt gekommen, um Menschen kennenzulernen, aber es sei ihm bis jetzt noch nicht gelungen, auch nur einen Menschen zu finden. Er habe verschiedene Mittel angewendet, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Aber er habe sie abgestoßen. Sie ließen ihn zwar ausreden und hörten ihm auch zu, aber sie wollten ihn nicht verstehen. Er habe ihnen Geschenke mitgebracht; denn mit Geschenken könne man Menschen zur Freundschaft und zur Anhänglichkeit verführen. Aber sie nähmen die Geschenke nicht an und setzten ihn vor die Tür. Er habe tagelang darüber nachgedacht, warum sie ihn nicht haben wollen. Aber er sei nicht darauf gekommen. Er habe sich sogar verwandelt, um Menschen zu gewinnen; er sei bald der und bald jener gewesen, und es sei ihm gelungen, sich zu verstellen, aber auch auf diese Weise, habe er nicht einen Menschen gewonnen. Er redet auf den alten Mann, der neben seiner Haustür sitzt, mit einer solchen Gewalttätigkeit ein, daß er sich plötzlich schämt. Er tritt einen Schritt zurück und stellt fest, daß in dem alten Mann nichts vorgeht. In dem alten Mann ist nichts, das er wahrnehmen könnte. Jetzt läuft der junge Mann in sein Zimmer und deckt sich zu.

Der Überlebende notiert: Gegen Ende des Krieges werden Stollen in die beiden Stadtberge gebohrt, in . welche die Menschen hineinströmen, weil ihnen die Vernichtung droht. Nur weil sie in die Stollen hineingehen, kommen sie mit dem Leben davon. Zuerst getrauen sie sich nicht ans Tageslicht. Nur zögernd lassen sie die ihnen wertlos und schwach Erscheinenden vor die Tore hinaus, schließlich auch die Kinder und am Nachmittag verlassen sie alle schweigend die Stollen, in denen viele von ihnen erstickt sind, weil sie zuwenig Sauerstoff hatten. Freiwillig holen sie die Toten heraus und verscharren sie vor den Ausgängen. Als nun aber der Krieg zu Ende ist, geschieht etwas, das niemand begreifen kann: Sie schütten die Stollen nicht zu, sondern gehen, wie es ihnen zur Gewohnheit geworden ist, hinein. Täglich zur gleichen Stunde. Sie werden, solange sie leben, die Stollen aufsuchen.

Aus „Literatisches Kolloquium, Berlin“

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