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Inntal vor den Toren Wiens?

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Hunderttausende Autos durchfluten plötzlich die bis- lang toten Grenzen im Ost- en Österreichs. Haben un- sere Verkehrsplaner schon entsprechende (Gegen-) Maßnahmen parat?

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Hunderttausende Autos durchfluten plötzlich die bis- lang toten Grenzen im Ost- en Österreichs. Haben un- sere Verkehrsplaner schon entsprechende (Gegen-) Maßnahmen parat?

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Zentral verbunden mit der Öff- nung im Osten ist die Verkehrsfra- ge: Werden unsere toten Winkel in der Ostregion genauso wie West- österreich zum Durchhaus? Stich- wort: Kein zweites Inntal vor den Toren Wiens! Genügt es, von Dreh- scheiben-Funktion und EXPO- Spektakel zu schwärmen, gleich- zeitig aber kinetische Sperrstun- den auszurufen?

Klar ist, daß die Veränderungen im Osten schwerwiegende Auswir- kungen auf das österreichische Verkehrssystem haben. Im Perso- nenverkehr wird die nicht mehr durch Stacheldrahtverhaue gefes- selte Reiselust nach Österreich und durch unser Land spürbar werden. Nach der sich auflösenden RGW- internen Arbeitsteilung und der sich intensivierenden Kooperation mit dem Westen führt im Güterverkehr kaum ein Weg an Österreich vorbei. Mit einem Wort: Schattenseiten der neuen Freiheiten - oder im öko- fachchinesisch „Belastungspoten- tiale für Österreich" - werden sicht- bar:

In zwei kürzlich fertiggestellten Arbeiten wird der Frage nach den Rückwirkungen der politischen Veränderungen auf unsere Ver- kehrsinfrastruktur nachgegangen. Diebeiden Ziviltechniker Sepp Sni- zek und Werner Rosinak entwarfen unter Einbeziehung möglicher ge- sellschaftlicher und wirtschaftli- cher Entwicklungen zwei Lang- frist-Leitbilder. Dabei wurden für die einzelnen Verkehrszwecke fol- gende Entwicklungslinien freige- legt: Kräftige Anstiege im Arbeits- pendler-, Erledigungs-, Einkaufs-, Freizeit- und Urlauberverkehr.

Von all diesen Verkehrszwecken ist nur der vorübergehend anstei- gende Arbeitspendlerverkehr stark auf den öffentlichen Verkehr bezo- gen. Das heißt, Bus und Bahn neh- men die Wochen- und Tagespend- ler auf. Nur bedingt können öffent- liche Verkehrsmittel dem ständig wachsenden Erledigungs- und Ur- lauberverkehr entsprechen. Stark dominant ist das Auto hingegen im Einkaufs- und Freizeitverkehr. Im wachsenden Güterverkehr zeichnet sich infolge des wirtschaftlichen Strukturwandels eine rückläufige Bedeutung der Schiene ab.

Den Herausforderungen der zwei sich bislang vollkommen unabhän- gig voneinander entwickelnden Stadtregionen Wien und Preßburg mit rund 2,5 Millionen Einwohnern sowie der geplanten EXPO '95 in Wien und Budapest begegnen Rosi- nak/Snizek mit stark angebots- orientierten Infrastrukturvorschlä- gen. Das heißt, dem Druck der Stra- ße soll nicht durch mehr Straßen entsprochen werden. Eindeutige Priorität geben die beiden Zivil- techniker Maßnahmen für einen leistungsfähigeren öffentlichen Verkehr. Inter-City-Verbindungen Budapest-Wien und Prag-Brünn- Wien (zwei Stunden-Takt plus Rei- sezeitverkürzung), S-Bahn-Verbin- dung Preßburg-Wien, Park and Ride-Angebot entlang der Ost- autobahn mit Informationssyste- men, U3-Verlängerung nach Sim- mering, Beseitigung der Eisenbahn- engpässe in und um Wien.

Strittig ist die Ostautobahn-Tras- senführung. Mit einer Verschwen- kung in die Dreiländer-Ecke CSFR, Ungarn, Österreich könnte näm- lich der sich bereits abzeichnenden Forderung nach einer zusätzlichen hochrangigen Straßenverbindung zwischen Preßburg und Wien zu- mindest teilweise zuvorgekommen werden. Zweifel, ob derartige an- gebotsorientierte Strategien aufge- hen können, werden im Kommen- tar eines ausgefuchsten Straßen- planers spürbar: „Ich glaube nicht daran, aber hoffen muß ich."

Zumal der Wirtschaftsforscher Wilfried Puwein an Hand von Zahlen der über niederösterreichi- sche und burgenländische Grenz- stellen nach Österreich einreisen- den Ausländer mit einem Anstieg von 3,4 Millionen (1985) auf 16,4 Millionen im abgelaufenen Jahr eine geradezu hektische Dynamik ortet: „Im Dezember 1988 fuhren 4,5mal so viele Ausländer von Ungarn und im Dezember 1989 28mal so viele Ausländer aus der CSFR nach Österreich als im jeweiligen Ver- gleichsmonat des Vorjahres."

In seiner Analyse unterscheidet Puwein zwischen alten und neuen Verkehrspotentialen. Alte Ver- kehrspotentiale sind Länder, deren Staatsbürger schon immer frei ausreisen konnten und deren Wirt- schaft marktwirtschaftlich organi- siert ist. In neuen Verkehrspoten- tialen erhielten die Bewohner erst im Zuge der jüngsten Entwicklung Reisefreiheit; der Planwirtschafts- status im Osten öffnet 27 Millionen Menschen aus den Anrainerstaaten CSFR und Ungarn sowie 55 Millio- nen Menschen aus der DDR und Polen den Weg nach und durch Österreich. Für Österreichs Stra- ßen bildet der Bestand von rund 13 Millionen PKW in diesen Ländern ein beachtliches Belastungspoten- tial. Bei allen Systemvorteilen, die Bus und Bahn bieten, dürfen wir uns nicht verrennen und die Rech- nung ohne Wirt anstellen: Ist näm- lich einmal ein Auto vorhanden, so ist dieses das billigste Urlaubsver- kehrsmittel, das außerdem die Möglichkeit zum Campieren bietet und daher ein devisensparendes Reisen ermöglicht.

Vom Güterverkehr trifft der Ausbau des Handelsverkehrs mit Osteuropa Österreich nicht nur als Ein- und Ausfuhrland, sondern auch als Transitland für Transpor- te zwischen Italien und der CSFR, Ungarn, Polen sowie zwischen der DDR beziehungsweise der Bundes- republik und Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Würden Österreichs östliche Nachbarn Ungarn und CSFR pro Kopf ihrer Bevölkerung ebenso viele Waren aus Österreich beziehen wie zum Beispiel die Bundesrepublik Deutschland, so wäre das Transportaufkommen im Ausfuhrverkehr in diese Länder viermal höher als derzeit. Die Annäherung des Güteraustausches an die Struktur des Außenhandels zwischen Italien und der Bundes- republik Deutschland würde den Transitverkehr auf der Südwest- Nordost-Achse durch Österreich mehr als verzehnfachen. Selbst bei Ausschöpfung aller verkehrs- organisatorischen Maßnahmen, At- traktivierung des Reiseverkehrs mit Bahn und Bus sowie einer restrikti- ven Vergabepraxis für Straßen- transport-Fahrgenehmigungen, ist die nach Osten gerichtete öster- reichische Verkehrsinfrastruktur schlecht gerüstet.

Für den Güterverkehr gewinnt die Wasserstraße Donau auch durch die baldige Fertigstellung des Rhein-Main-Donau-Kanals an Bedeutung. Dem zu erwartenden Personenverkehrsaufkommen wird die Straßeninfrastruktur im Raum Wien kaum entsprechen können.

Vorerst werden mühsam die wich- tigsten Entwicklungslinien freige- legt. Symposien und Forschungs- berichte ersetzen bislang geschlos- sene Maßnahmen-Pakete. Wie so oft ist dabei die Anzahl von Sympo- sien und Tagungen zu einem Thema umgekehrt proportional zum tat- sächlichen Lösungsfortschritt. Und das, obwohl zwischen hektisch pulsierendem Leben und (Ver- kehrs-)Infarkt oft nur Sekunden liegen.

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