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Konterrevolution oder Krise ?

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Halb vergessen! Das ist die gängige Antwort im heutigen Budapest auf die Frage nach der öffentlichen Diskussion der Ereignisse vom Oktober 1956. Nichtsdestoweniger befaßt man sich jetzt in vielen Zeitungsartikeln mit dieser „Konterrevolution“.

Wie die ungarische Regierungsdelegation, die an diesem Tag aus Jugoslawien zurückkehrte, wurden viele ungarische Staatsbürger von den Ereignissen völlig überrollt. Am Morgen fuhr man per Bahn noch zur Arbeit nach Miskolc oder begleitete ein befreundetes Paar auf der Hochzeitsreise zum Plattensee. Am Abend — nach einem warmen, angenehmen Tag - lag der Verkehr in Budapest lahm, die Stadt war in Aufruhr, es wurde geschossen.

Gegen 19 Uhr brannte es in der sowjetischen Buchhandlung auf der Ringstraße: Zwei kommunistische Schriftsteller nutzten die Gelegenheit, um daraus die Werke Lenins zu plündern.

Mit den Schüssen der Sicherheitspolizei AVO auf die Demonstranten wähnten auch viele Kommunisten das Ende der Macht des Proletariats gekommen. Binnen kürzester Zeit glaubten die Aufständischen das Ziel — Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität Ungarns — erreicht zu haben. Die Revolution — im offiziellen Ungarn spricht man heute manchmal schon von „Krise“ -schwemmte unterschiedliche politische Kräfte empor.

Heute — 30 Jahre danach — ist es noch immer schwer, das Subjekt dieser ungarischen Revolution zu fassen. Das geben auch jene zu, die damals mitten drinnen standen und sich mit dem Aufstand identifizierten: Weil auch die Ziele der Revolte nicht bei allen dieselben waren. Die Ereignisse überstürzten sich. Nach kaum zwei Wochen war schon wieder alles vorbei.

Ob Krise oder Konterrevolution, ob Niederschlagung des Aufstandes oder Normalisierung — der 23. Oktober 1956 ist für Ungarn und die Welt Signal eines nicht zu bändigenden Selbstbestimmungswillens eines Volkes.

Nach 30 Jahren relativ positiver Entwicklung ist es auch für Ungarn heute schwer zu sagen, ob jener Mann, der die Sowjets holte, Jänos Kädär, eindeutig ein Verräter oder letztlich Retter des Vaterlandes ist.

Kädär ist kein komplizierter Mensch, kein romantischer Revolutionär; ihn selbst trafen die Ereignisse sehr hart. Unter seiner behutsamen Führung hat Ungarn in 30 Jahren viel von dem erreicht, was die 56er Revolution bezweckte. Das Wesentlichste — Mehrparteienstaat und Neutralität („irreale, absurde Forderungen“, wie Chefredakteur Jänos Nemes unlängst in der „Budapester Rundschau“ schrieb) — blieb ein Wunschtraum.

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