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Revolution an der Nebenfront

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Der satyrisch überdrehte Slogan „Untertanenfabrik“ ziert der Alma ma-ter Außenmauern. Damit verbali-sieren Studenten das Unbehagen, das ein, an humanistischen Idealen orientiertes, Aus- und Bildungssystem, welches an den Phänomenen der hochindustrialisierten Gesellschaft scheitert, produziert „Leitende Idee der Bildung“ — formuliert die, zur Überprüfung der Schulgesetzgebung 1962, eingesetzte Schulreformkommission —“ ist der mündige Mensch, der autonom und mit kritischem Bewußtsein zur persönlichen Verantwortung für die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben befähigt und bereit ist“. Diese programmatische Erklärung soll nun nach dem Willen sozialistischer Bildungsexperten in die Schulrealität umgesetzt werden „Die Zukunft“ — sozialistische Zeitschrift für Politik, Würtschaft und Kultur, hält eine Grundsatzdiskussaon der „Schul- und Bildungsprobleme“ ab und tritt damit zur Offensive gegen versteinerte (vom politischen Gegner vernachlässigte) Büdungsstrukturen an: Die SPÖ ist dabei, eine Revolution an einer Nebenfront zu errichten. „Subjekt der Schulreform ist der Lehrer“ — legt der Klagenfurter HandeLsakademiedirektor Dr. Josef Maderner In der „Zukunft“ überzeugend dar. Denn: „immer noch werden ausschließlich Volksschullehrer ausgebildet, obwohl es immer weniger Volksschuloberstufen gibt; immer noch bilden sich Hauptschullehrer als Autodidakten selbst aus und erreichen eine sehr unterschiedliche fachliche Qualifikation; immer noch wirken an den Höheren Schulen fachwissenschaftlich gut, aber pädagogisch kaum ausgebildete Akademiker“.

Damit bewegt er sich in dem von Unterrichtsminister Leopold Gratz abgesteckten Rahmen, der, auf die geänderten gesellschaftlichen Verhältnisse abstellend, drei Hauptpunkte der Reform reflektiert: „eine Organisationsform, in der kein Kind von einer Bindung einer ihm gemäßen Bildung ausgeschlossen bleibt, auch wenn seine Begabung erst später erkannt wird, eine Forschung und Uberprüfung des Lehrinhaltes an den Schulen und eine Ausbildung der Lehrer, die den neuesten pädagogischen Erkenntnissen entspricht.“

Eng verknüpft mit der Neuorientierung der Lehrerausbildung ist die Frage, was in Zukunft gelehrt werden soll. Die Antwort erhofft man sich von der Curriculum-Forschung, die sich als „das umfassende Gerüst von Lehr- und Lemzielen, Lehr- und Lerninhalten, Lehr- und Lernstufen, Lehr- und Lernverfahren“ definiert. Sie zielt also darauf ab, das gesamte Gefüge, die Struktur, die innere Organisation und Formation der Bildungsgänge zu erfassen. Aufbauend auf die Ergebnisse dieser Forschungen soll, nach den Vorstellungen der Schulreformkommision, die Grundschule (Volksschule) umgestaltet werden: in den ersten beiden Klassen sollen die Kulturtechniken bewältigt werden. Dazu gehören neben Sprechen, Lesen und Schreiben auch das graphische Darstellen, das die künstlerischen und technischen Fähigkeiten des Kindes fördert. Weiters soll der Schüler bereits in der 3. oder 4. Klasse mit einer lebenden Fremdsprache konfrontiert werden. Außerdem schlägt man die Substitution des Klassen- durch das „Setting-System“ vor. Das heißt: der Schüler soll die Möglichkeit haben, seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend, Fächer zu intensivieren — unabhängig von den Leistungen in anderen Gegenständen. Für den Übertritt in die Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS) wird schon für das Schuljahr 1971/72 die Aufnahmsprüfung entfallen und ersetzt werden durch die in Haupt- und Höhere Schule differenzierende Empfehlung der Klassenlehrkonfe-renz. Fernziel bleibt die Gesamtschule als Schule aller 10 bis 14jähri-gen. Die Rodung der fast hochstaplerisch zu nennenden Stoffülle und die Verschmelzung verschiedener Unterrichtsfächer zu Bildungseinheiten sind weitere Forderungen, die dem Schüler ermöglichen sollen, sein Denken, Handeln und Gestalten der dynamischen und mobilen Welt mit pluralistischem Wertsystem anzupassen.

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