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Villa Giusti: 1918

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Am 4. November d. J. jährte sich zum vierzigstenmal der Tag, an dem während der tragischen Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie und ihrer bis zuletzt tapfer ausharrenden Armee unser letzter Krieg mit Italien durch den Waffenstillstand von Villa Giusti beendet wurde. Als ehemaliges Mitglied der österreichisch-ungarischen Waffenstillstandskommission begann ich in der letzten Nummer der „Furche“ (Nummer 44, 1. November) den Versuch, die Ereignisse zu schildern, die sich im Zusammenhang damit an der Tiroler Front und in der Villa Giusti abgespielt haben. Der Verfasser

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Am 4. November d. J. jährte sich zum vierzigstenmal der Tag, an dem während der tragischen Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie und ihrer bis zuletzt tapfer ausharrenden Armee unser letzter Krieg mit Italien durch den Waffenstillstand von Villa Giusti beendet wurde. Als ehemaliges Mitglied der österreichisch-ungarischen Waffenstillstandskommission begann ich in der letzten Nummer der „Furche“ (Nummer 44, 1. November) den Versuch, die Ereignisse zu schildern, die sich im Zusammenhang damit an der Tiroler Front und in der Villa Giusti abgespielt haben. Der Verfasser

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1. NOVEMBER 1918, 9 UHR: Von einer Kavallerieeskorte begleitet, traf die italienische Waffenstillstandskommission, bestehend aus Generalleutnant Pietro Badoglioals Vorsitzenden, Generalmajor Scipione Scipioni, Alpinioberst Tullio Marchetti, Generalstabsoberst Pietro Gazzera, Oberst z. d. Generalstab Pietro Maravigna, Oberst z. d. Generalstab Alberto Pariani und Linienschiffskapitän Francesco Accinni in der Villa ein. In der gleich nach den gegenseitigen Vorstellungen eröffneten Sitzung teilte Generalleutnant Badoglio mit, daß im Laufe der vergangenen Nacht der Text des bereits fertiggestellten Waffenstillstandsvertrages vom Interalliierten Ministerrat in Paris an das C. S. in Abano chiffriert telephonisch durchgegeben worden sei. Infolge mehrfacher Verstümmelung des Chiffrentextes sei dieses Phonogramm nicht geeignet, als offizielles Dokument vorgelegt zu werden; man werde also auf den authentischen Text warten müssen, den ein von Paris kommender Offizier am 2. November zum C. S. nach Abano bringen werde. Um jedoch die Zeit bis dahin nicht unbenutzt verstreichen zu lassen, händigte er der österreichisch-ungarischen Kommission das entzifferte Phonogramm als „ab-bozzo“ (das heißt Korrekturbogen) aus.

Nach Schluß der kurzen Sitzung machten wir uns sofort an das Studium des in französischer Sprache verfaßten Dokumentes. Die darin enthaltenen, uns aufdiktierten Bedingungen waren niederschmetternd, viel ärger, als wir es jemals befürchtet hatten: Räumung nicht nur des von unseren Truppen besetzten italienischen Gebietes, sondern auch der von den Ententemächten im Londoner Geheimpakt vom 26. April 1915 Italien zugesprochenen Teile der österreichisch-ungarischen Monarchie (das heißt also: Südtirol bis zum Brenner, Görz-Gradiska, Triest, Istrien und Teile Krains, Dalmatiens und der dalmatinischen Inseln, Uebergabe der Hälfte unseres Artilleriematerials und der Flotte, Uebergabe aller Kriegsgefangenen, endlich Gewährung freier Bewegung von Ententetruppen auf österreichisch-ungarischem Gebiet, um strategisch wichtige Punkte zu besetzen und sich aller für militärische Operationen und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit erforderlichen Verkehrsmittel aller Art zu bedienen.

1. November, 12 Uhr: Nach Prüfung des übergebenen Textes ersuchte General der Infanterie von Weber das C. S. um die Erlaubnis, zwei Mitglieder der österreichisch-ungarischen Kommission, und zwar Oberst Schneller und Hauptmann Ruggera, mit Auto durch die italienischen Linien zu entsenden, um von dort aus das AOK über die Waffenstillstandsbedingungen zu unterrichten. Gleichzeitig wurde eine erste Besprechung mit Generalleutnant Badoglio für 15 Uhr vereinbart.

1. November, 15 Uhr: Bei dieser Besprechung richtete G. d. I. von Weber das dringende Ersuchen an Badoglio, die Feindseligkeiten so rasch als nur möglich zu beenden. Badoglio entgegnete, daß das C. S. im Namen aller alliierten und assoziierten Staaten (offizielle Bezeichnung der Ententemächte) spreche; da diese die Waffenstillstandsbedingungen festgesetzt hätten, so bleibe ihm nichts anderes übrig, als die erhaltenen Weisungen durchzuführen. Daher könne er keinerlei Diskussion über das Meritum der Bedingungen zulassen, sondern lediglich über die praktischen Modalitäten ihrer Durchführung. Weiter erklärte er, daß das C. 'S. die von der österreichisch-ungarischen Kommission dargelegten menschlichen Erwägungen zwar vollkommen I würdige, daß jedoch eine Einstellung der Feindseligkeiten erst nach Abschluß des Waffenstillstandes möglich sei. Daran schloß sich eine Debatte, wie der in der Klausel 1 enthaltene Ausdruck „cessation i m m e d i a t e des hostilites“ zu verstehen sei. Während wir diesen Ausdruck so auslegten, daß die Feindseligkeiten sofort einzustellen seien, sobald die Truppen der vordersten Linie davon verständigt seien, widersetzte sich Badoglio dieser Ansicht, indem er darauf hinwies, daß die Uebermittlung der Nachricht des Waffenstillstandsabschlusses bei den in Verteidigungsstellungen oder im Rückzug befindlichen österreichisch-ungarischen Truppen viel rascher vor sich gehen würde, als bei den in der Offensive vorrückenden und teilweise bereits weit vorgestoßenen italienischen und alliierten Truppen, was zur Folge hätte, daß die Einstellung der Feindseligkeiten nicht gleichzeitig an beiden Fronten erfolgen würde. Es müsse daher eine bestimmte Uhrzeit nach erfolgtem Abschluß des Waffenstillstandes (das heißt nach erfolgter Unterzeichnung des Waffenstillstandsdokumentes) als Termin ir die tatsächliche Einstellung der Feindseligkeiten festgesetzt werden, um zu verhindern, daß eine Truppe die Waffen niederlege, während die gegenüberstehende, vom Abschluß des Waffenstillstandes noch nicht verständigte feindliche Truppe . befehlsgemäß weiterkämpfe. General? leutnant Badoglio war der Ansicht, daß diese Uhrzeit mit mindestens 12 Stunden nach erfolg? ter Unterzeichnung des Waffenstillstandsdokumentes festzusetzen sei, was von G. d. I. von Weber als viel zu lang bezeichnet wurde. Generalleutnant Badoglio beendete diese Debatte mit der Bemerkung, daß er für die Fixierung dieses Zeitpunktes ohnehin nicht zuständig sei, da ja die Bedingungen vom Interalliierten Ministerrat in Paris festgelegt worden seien und er sich daher an diese Behörde um Entscheidung über die Auslegung der Klausel 1 wenden müsse.

Um diese wichtige Meinungsverschiedenheit über den Zeitpunkt der Einstellung der Feindseligkeiten dem AOK so rasch als möglich und ausführlich zu erklären, beschloß G. d. I. von Weber, den Fregattenkapitän Prinz von und zu

Liechtenstein, der überdies wünschte, möglichst bald mit der Obersten Marinebehörde in Verbindung zu treten, nach Trient zur entsenden, und richtete spät abends ein diesbezügliches Ansuchen an Generalleutnant Badoglio, der zustimmte. Im Laufe der Nacht verließ der Kapitän Villa Giusti und konnte — wie wir nach seiner Rückkehr am 3. November erfuhren — die Meldung des G.d. I. von Weber am 2. November um 12 Uhr dem AOK mit Fernschreiber durchgeben.

2. NOVEMBER, 16.45 UHR: Um diese Zeit wurde der österreichisch-ungarischen Kommission eine Abschrift des französischen Originaltextes der Waffenstillstandsbedingungen überreicht, der um 13.30 Uhr des gleichen Tages beim C. S. in Abano eingelangt war. Zugleich erhielten wir auch eine Note des C. S., die in ultimativer Form die Mitteilung enthielt, daß die Annahme der Waffenstillstandsbedingungen bis spätestens 3. November, 24 LIhr, zu erfolgen habe.

2 1 Uhr: Vollsitzung der beiden Waffenstillstandskommissionen in der Villa. Gleich zu Beginn stellte Generalleutnant Badoglio fest, daß diese Sitzung lediglich die Besprechung der für die Durchführung der einzelnen Klauseln des Waffenstillstandsvertrages erforderlichen Maßnahmen bezwecke und daß er jeden Versuch der' österreichisch-ungarischen Kommission, die Waffenstillstandsbedingungen abzuändern, selbst a priori abweisen müsse.

Als erster Punkt wurde die Frage des Zeitpunktes besprochen, an dem die Feindseligkeiten gleichzeitig an beiden Fronten eingestellt werden sollten. Generalleutnant Badoglio erklärte, daß der Interalliierte Ministerrat nunmehr endgültig diesen Zeitpunkt auf „24 Stunden nach Abschluß des Waffenstillstandes“ festgesetzt habe, und wiederholte zur Begründung dieses Standpunktes seine in der Besprechung des Vortages vorgebrachten Argumente. Ein Einspruch des G. d. I. von Weber, der Generalleutnant Badoglio daran erinnerte, daß er sich am Vortage mit 12 Stunden begnügt habe, wurde mit dem Hinweis auf die Entscheidung des Interalliierten Ministerrates, die inappellabel sei, zurückgewiesen.

Der österreichisch-ungarischen Kommission blieb nichts anderes übrig, als dieses Diktat anzunehmen, worauf Generalleutnant Badoglio erklärte, daß das C. S. — in der Absicht, die Frist von 24 Stunden abzukürzen — die Konzession machen werde, daß der Beginn der 24stündigen Frist — statt nach erfolgter Unterschrift aller Waffenstillstandsdokumente — bereits von dem Zeitpunkt an laufen werde, an dem die österreichisch-ungarische Kommission die Erklärung abgeben werde, daß sie die Waffenstillstandsbedingungen annehme. (Diese Konzession war insofern von Bedeutung, als am nächsten Tage die Erklärung um 15 Uhr erfolgte, während die. Unterschrift der Dokumente erst um 18 Uhr beendet war.)

Nach Erledigung der Besprechung der Klausel-1 (Zeitpunkt der Einstellung der Feindseligkeiten) wurde die Sitzung auf kurze Zeit unterbrochen, um der österreichisch-ungarischen Kommission die Möglichkeit zu geben, dem AOK die Festsetzung der 24stündigen Frist mit Funkspruch zu melden. Dieser Funkspruch wurde um etwa 22 Uhr von Oberst Gazzera übernommen und an die Radiostation des C. S. geschickt, von wo er über die Radiostationen Pola, Budapest, Laaer Berg an das AOK durchgegeben wurde. (Er ist, wie später festgestellt wurde, beim AOK erst am 3. November, 13.18 Uhr, eingelangt.)

3. NOVEMBER: Im weiteren Verlauf der Sitzung wurde bis zum 3. November, 3 Uhr, die Durchführung der übrigen Klauseln besprochen. Das Ergebnis dieser Besprechung wurde in einem Protokoll zusammengefaßt, das die Bezeichnung „Protocole annexe contenant les de-tails et les clauses d'exicution de certains points de l'armistice“ erhielt.

Um 13.30 Uhr des 3. Novembers trafen die am 1. November nach Trient entsandten drei Mitglieder der österreichisch-ungarischen Kommission wieder in der Villa Giusti ein. Oberst Schneller überbrachte die Ermächtigung des AOK, die Waffenstillstandsbedingungen anzunehmen — allerdings hatte er nach Verlassen von Trient auf seiner Fahrt durch das Etschtal den telegraphischen Befehl des AOK erhalten, das die vorerwähnte Ermächtigung enthaltende Telegramm Op. geh. Nr. 2100 zu vernichten. Aber auf Grund des Berichtes Oberst Schnellers, der die völlige Ratlosigkeit im AOK und die beispiellose Verwirrung bei unseren Truppen im Etschtal schilderte, entschloß sich G. d. I. von Weber, nicht mehr länger zuzuwarten, und berief die italienische Kommission zu einer Plenarsitzung um 15 Uhr ein. (Fortsetzung und Schluß in der nächsten Hummer)

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