Pflege - © Foto: Pixabay

Leben im Pflegeberuf: Das Quäntchen mehr an Aufmerksamkeit

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Bianca Sünbold ist Intensivpflegerin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Hier erinnert sie sich an einen "besonderen" Patienten zurück. Und daran, warum ihr Beruf eine Berufung und mehr als nur ein "Job" ist.

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Bianca Sünbold ist Intensivpflegerin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Wien. Hier erinnert sie sich an einen "besonderen" Patienten zurück. Und daran, warum ihr Beruf eine Berufung und mehr als nur ein "Job" ist.

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DIE FURCHE holt in der neuen Porträt-Reihe "Gesichter des Zusammenhalts" sogenannte „Systemerhalter(innen)“ vor den Vorhang. Zum Auftakt spricht Christine Dobretsberger mit Bianca Sünbold, die ihr bereits 2015 für das Buch "In besten Händen. Menschen aus Pflegeberufen erzählen" von ihren Erfahrungen berichtete.

Jede Pflegekraft hat diesen einen Patienten. Diesen einen irgendwie besonderen. Den, an dessen Namen man sich immer erinnern wird. An seine Familie, an seine Krankheit und in meinem Fall auch an seinen Tod. Nennen wir ihn Herrn Selig. Er war einer meiner ersten Patienten auf der Intensivstation. Ich hatte gerade meine Ausbildung beendet und war noch neu auf der Station. Neu in diesem Land. Unsere Begegnung war buchstäblich vom ersten Moment an außergewöhnlich: Als ich mich hinhockte, um ihm bei der Aufnahme aus den Schuhen zu helfen, riss meine Hose und augenblicklich war die übliche anfänglich distanzierte Beziehung Vergangenheit. Wir waren uns sofort sympathisch.

Herr Selig bekam einen externen Schrittmacher eingesetzt. Im Zuge dieses Eingriffs kam es kurzfristig zu Komplikationen und er musste reanimiert werden. Später erzählte er mir, als er aufwachte und meine Kollegin und mich sah – beide blond und mit gleichem Vornamen –, wusste er, dass wir zwar Engel wären, er jedoch nicht im Himmel sei. Es klingt kitschig, aber wenn der erste eigene Intensivpatient erfolgreich reanimiert wurde, hört man dies gern. Seine Genesung erfolgte wie aus dem Bilderbuch und man könnte fast sagen, wir freundeten uns an. Die Gespräche wurden privater und meine Kollegin und ich lernten auch seine Familie kennen, zu der er ein sehr enges Verhältnis hatte. Stolz wurden wir allen seinen Verwandten vorgestellt. Wir waren immer seine zwei Biancas, die blonden Engel. Bald darauf wurde er in die Rehab verlegt. Freude auf beiden Seiten.

Wie es der Erfahrung nach auf einer internen Station üblich ist, kam er in großen Abständen immer wieder. Er erkannte uns stets sofort und wir knüpften nahtlos an die letzten Aufenthalte an. Mit der Zeit verkürzten sich allerdings die Abstände zwischen seinen Aufenthalten und sein Gesundheitszustand wurde zusehends schlechter. Wenn Bianca oder ich gerade nicht Dienst hatten, erkundigte er sich nach uns, auch seine Familie wollte immer informiert sein, wie es uns geht. Meine Kollegin und ich gaben uns ebenfalls immer sofort Bescheid, wenn Herr Selig wieder auf unserer Station aufgenommen wurde. Wir brachten ihm manchmal Kuchen oder Obst mit und er bekam stets das Quäntchen mehr an Aufmerksamkeit und Zuwendung, das man eben bisweilen übrig hat. Herr Selig lag uns einfach am Herzen. Demzufolge hielten wir uns auch über sein Befinden am Laufenden, wenn eine von uns Urlaub hatte und eine besorgniserregende Situation eintrat. Was leider in weiterer Folge auch der Fall war. Die Familie entschied sich gegen weitere lebenserhaltende Maßnahmen und wir setzten alles daran, ihm seine letzten Tage so angenehm wie möglich zu gestalten. Er war derjenige Patient, nach dem man zu Dienstbeginn als erstes sah, bei dem die Familie immer ein bisschen länger bleiben durfte und bei dem man nach Feierabend auch noch kurz vorbeischaute.

Es war an einem Montag, als es sich nach längerer Zeit wieder einmal ergab, dass Bianca und ich gemeinsam im Dienst waren. Herr Selig hatte deutlich abgebaut und bereits am Morgen stand es sehr schlecht um ihn. Wir informierten seine Familie, die wenig später zugegen da. Er lag alleine in einem Zimmer und die ganze Familie war versammelt. Wir ließen ihnen Ruhe und Zeit. Jedes Mal wenn sich seine Zimmertür öffnete, hielten Bianca und ich kurz die Luft an. Wir gingen unserer Arbeit nach, aber die Minuten fühlten sich wie Stunden an. Als seine Frau die Zimmertür öffnete, wussten wir es gleich. Sie kam tränenüberströmt auf uns zu, umarmte uns und sagte: „Er hat nur gewartet, bis ihr beide wieder im Dienst seid.“ Diesen Moment werde ich niemals vergessen. Nie hätte ich gedacht, dass der Tod eines Patienten mich so mitnehmen würde. In diesem Moment war es mir völlig egal, ob mich jemand weinen sieht und dieses Verhalten vielleicht als unprofessionell einstuft. Wir haben unendlich viel geweint an diesem Tag und es war unsagbar traurig, Herrn Selig nach seinem Tod zu versorgen.

An dieser Stelle möchte ich zum Ausdruck bringen, dass Herr Selig stellvertretend für alle „besonderen“ Patienten steht, die wir im Laufe unserer Karriere kennenlernen. Natürlich ist jeder Patient etwas Besonders, aber es sind diejenigen, die uns auf außergewöhnlicher Weise im Gedächtnis bleiben. Es sind diejenigen, die uns zeigen, dass wir doch nicht so routiniert und abgebrüht sind, dass uns nichts mehr erschüttern kann. Es sind diejenigen, die uns zeigen, dass wir trotz Stress und Dauerbelastung, doch noch irgendwo ein Herz für kleine besondere Momente haben und dass wir offensichtlich nicht so abgestumpft sind, wie wir manchmal befürchten oder glauben möchten. Es sind die Momente, in denen man darüber nachdenkt, ob unser Beruf nicht vielleicht doch ein kleines bisschen Berufung darstellt. Für genau diese Momente und Personen sollten wir dankbar sein.

Dieser Text wurde original in Christine Dobretsbergers Buch "In besten Händen. Menschen in Pflegeberufen erzählen" (Molden Verlag, 2015) publiziert.

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