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Der Sieg der Neuen Linken

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Der Saal war überfüllt. In der Übertragungskabine arbeitete man fieberhaft an der Herstellung geeigneter Vorbedingungen für Aufzeichnung und Übertragung der bevorstehenden Vorgänge. Man sah stabile Kameras und mobile Kameras mit Kabelträgern, mobile Mikrophone, Photo-reporter.

Von lebhaftem Beifall begrüßt, betrat das Zentralkomitee der Neuen Linken das Podium und nahm in der ersten Reihe Platz. Minutenlang ertönte im Sprechchor der Schlachtruf der Neuen Linken: „Pf — St — Pf — St — Pf — St...“, der sich vor allem bei Störaktionen seit Wochen als so besonders wirksam erwiesen hatte.

An das Rednerpult trat zunächst der Generalsekretär der lokalen Schriftstellerorganisation, welche formaliter den Abend veranstaltete, Pius Büttel, Autor des an allen subventionierten Bühnen gespielten Erfolgsstücks „Gespräch über die Notlage der Arbeiter und Bauern im nordwestlichen Braunkohlendistrikt von Bolivien und die verbrecherischen Versuche der mit Hilfe nordamerikanischer Konzerne eingesetzten antidemokratischen faschistischen Regierungsclique, den heldenhaften Befreiungskampf der Guerillas blutig zu unterdrücken, dargestellt von einer Truppe irrsinniger Dilettanten im Krankenhaus von Saint-Denis unter Leitung des Doktors Louis Pasteur, anläßlich einer Plenarsitzung des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses.“

Pius Büttel erklärte die Veranstaltung für eröffnet und begrüßte jeden einzelnen Anwesenden.

Der Zufall der Sitzordnung fügte es, daß Jan Vysvital bei dieser Begrüßung als Vorletzter drankam. Pf und St, im Zentrum der ersten Reihe, bereiteten sich darauf vor, alsbald in Aktion zu treten und den weiteren Verlauf des Abends zu bestimmen. Jan Vysvital begnügte sich nicht damit, für den Applaus zu danken und Pius Büttel die Hand zu schütteln.

Er trat an das Rednerpult, nahm das Wort und sprach also: „Ich dank euch für eure Begrüßung. Ich bring euch die Grüße von unseren Schriftstellern in der CSSR.“

Er sprach fließend, doch mit starkem Akzent. Und dieser Akzent war derart, wie man ihn von komischen Figuren auf der Bühne und im Film her kannte. So konnte man die Worte zunächst nicht recht ernst nehmen und fühlte sich in eine verstaubte Operette versetzt. Doch die Ansprache ging weiter, und der Sinn ihrer Sätze ließ allmählich den Tonfall und die Grammatik vergessen.

„Bißl was hat man gelesen in der Presse und erfahren im Radio und im Fernsehen, von dem, was losgegangen ist bei euch. Und wie ich hergefahren bin, durch euer Land, da hab' ich mich gut umgeschaut, und dann heute, in eurer Stadt, da hab' ich gesehen, was los ist. Und dann war noch Zeit genug, no, hab ich einen Freund getroffen. Der hat mir erzählt. Ihr machts jetzt bei euch eine Umfunktionierungsprovoka-tion oder wie das heißt. Ihr seids hörich revolutionär. Und wie ist man bei euch, wenn man revolutionär ist? Was tragt man jetzt als linkes Parteiabzeichen? Keine rote Nelke. Nicht haarschneiden und blöd angezogen sein und ein bißl Sex und ein bißl Mao und ein bißl Beat, das ist jetzt der Sozialismus bei euch. Und diskutieren.

No, bitte, wir diskutieren auch bei uns zu Hause, in den Organisationen und in den Klubs und in der Gewerkschaft. Aber ihr, ihr diskutierts in der Theatervorstellung und in der Kunstausstellung und im Symphoniekonzert. Bei uns wird im Parlament diskutiert und im ZK, und wenn sie .Hamlet' geben, geben sie .Hamlet'. Ihr diskutierts, statt daß sie .Hamlet' geben, und im ZK und im Parlament wollts ihr theaterspielen. Weil alles manipuliert ist, sagts ihr.

No, bitte, freilich ist alles manipuliert, aber glaubts ihr, es wird morgen alles nimmer manipuliert sein? Ja, morgen vielleicht, aber übermorgen wird euch spätestens der Genosse Mao seine Spezialisten schicken und der Genosse Breschnjew seine Techniker, wenn sie nicht schon da sind, und dann werdets ihr nimmer manipuliert sein, glaubts ihr? Dann, glaubts ihr, wird kein Establishment sein?

No, natürlich ist die bürgerliche Gesellschaft ein Misthaufen, aber ist vielleicht irgendeine andere Gesellschaft kein Misthaufen, Kuba vielleicht oder Albanien oder das große Vaterland aller Werktätigen?

Und wie in der CSSR? Wir haben uns ausgedacht, daß wir gern ein ganz ein kleines bißl mehr von dem haben möchten, was ihr jetzt wegwerfen werdets. Und glaubts ihr, wenn man sie fragen möcht in China und im ganzen Warschauer Pakt und in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, was ihnen passieren tat, sie möchten sagen: ,Nein, wir wollen, bitte schön, eine strenge Zensur und wir wollen, bitte schön, eine Rechtlosigkeit, und mehr Arbeit, als gesund ist, und nichts zum Fressen und nichts zum Anziehen und keine Auslandsreisen!' Was ist denn das, bitte, der Sozialismus?

Das ist, daß man streiken darf und frei wählen darf und sich aussuchen darf, wo man arbeitet, und Urlaub und Versicherung und eine Verfassung und eine Kontrolle. Das heißt Sozialismus. Und wo ist der? Beim Genossen Mao vielleicht ? Beim Vietkong? Bei euch, beim Kapitalismus auch nicht, aber ein bißl mehr, wenigstens ein bißl. Weil der, der was hat, auch wenn man es ihm nicht verstaatlicht, der zahlt soviel Steuern, daß das, was dabei herauskommt, allen zugute kommt. Die Autofabriken vom Herrn Ford gehören dem Herrn Ford, aber die Steuern, die sie abwerfen, und sehr gesalzene Steuern, die gehören allen miteinander. Und dort ist eine Presse und ein freier Rundfunk und ein freies Fernsehen, und da sind Organisationen zum Dazuschauen, daß was besser wird und weniger Korruption stattfindet. Weil Paradies werden wir uns keins anschaffen können. Aber ihr, ihr könnts dazuschauen, und die drüben, die können nur zuschauen!

Und wenn ich mich einmischen darf, liebe Genossinnen und Genossen, möcht ich, bitte, folgendes sagen: Heute habts ihr noch einen Parlamentarismus und eine Regierung und ein Staatsoberhaupt und eine Gewerkschaft. Soj und jetzt machts einen Wahlkampf, und die Neue Linke soll mitkandidieren, und dann werden die Stimmen ausgezählt, und der Neuen Linken wirds doch auf die paar Wochen nicht ankommen. Und wenn sie glaubt, daß sie die Partei für die Gesellschaftsform von morgen ist, so, wird sie halt die Partei von morgen in sechs Wochen sein, beginnt die Zukunft halt eineinhalb Monate später. Und je nachdem, wie die Wahlen ausgehen, werdets ihr euer neues Parlament haben und eine neue Regierung und vielleicht sogar ein anderes Staatsoberhaupt.

I wünsch allseits einen guten Abend und eine angenehme Nachtruhe. Ich empfehle mich.“ *

... und damit, meine sehr geehrten Damen und Herren, hat die Veranstaltung in der großen Kongreßhalle ein überraschendes und verfrühtes Ende gefunden. Der tschechoslowakische Delegierte geht langsam dem Ausgang zu — jetzt hat er den Ausgang erreicht— jetzt ist er verschwunden.

Die auf dem Podium Sitzenden haben dem Redner nachgesehen. Eine kleine Pause der Unschhls-sigkeit. Niemand tritt an das Rednerpult. Langsam schicken sich alle Persönlichkeiten an, dem Redner zu folgen und sich zum Ausgang hin zu bewegen. Es herrscht, meine sehr verehrten Damen und Herren, absolute Stille in dem Saal, der sich allmählich zu leeren beginnt Sollte ich den Trend der hier vorherrschenden Stimmung zu charakterisieren versuchen, würde ich sie am ehesten als Nachdenklichkeit bezeichnen.

Und damit sind wir am Ende unserer Übertragung angelangt. Wir hoffen, daß Sie einen guten Empfang hatten, vor allem aber hoffen wir, daß Wort und Bild alle jene Hörerinnen und Hörer, Seherinnen und Seher im In- und Ausland erreicht haben, denen sie zugedacht waren.

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