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In dem altenWayside Inn

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Kurz nach meiner Ankunft in England habe ich in einem jener alten Einkehrgasthöfe gewohnt, die wir aus den Erzählungen Scotts und anderer Schriftsteller vergangener Zeiten kennen.

Ein vergilbtes Buch über „Wayside Inns”, das ich zufällig aufgestöbert habe, sagt: Das Wirtshaus an der Landstraße soll den Fremden nicht nur gut verpflegen, sondern ihm auch die Heimat, Freunde und städtische Zerstreuungen ersetzen. Wirt und Wirtin haben sich ohne Zudringlichkeit teilnehmend nach seinen Lebensumständen zu erkundigen, mit ihm auf Wunsch zu würfeln und ihn schließlich mit Flötenspiel und Lichtern in sein Schlafgemach zu geleiten.

Mein Wirtshaus gehörte seit fünfhundert Jahren der Familie Frau Polly Pattisons. Es stand mitten auf dem Moor, wo früher kreuz und quer Saumwege geführt hatten und jetzt Autostraßen sind.

An Sonntagen wimmelte es vor der Haustür auf dem Platz, den Patrick und Jesse, die Schwiegersöhne der Wirtin, abwechselnd kehrten, bis er einem Parkettboden glich, von Omnibussen und Privatfuhrwerk, bunten Kleidern und Fahrrädern. Rückwärts nach dem Höfchen zu, wo im Sommer alles von Kletterrosen überging, unter deren Ranken alte Fässer lagen, konnte man in einem verschwiegenen Kämmerchen selbst nach der Sperrstunde Bier trinken. Auch ein ehrwürdig dunkles Extrazimmer war da und — hauptsächlich — die große Küche, wo die Wirtin und ihre Töchter den Betrieb in Gang erhielten, dabei aber beim Pastetenbacken und Teeaufbrühen, von Gästen oft so dicht belagert, daß sie sich kaum rühren konnten, an der allgemeinen Unterhaltung teilnahmen, immer gut gelaunt, immer sauber, wie um und um frisch gestärkt und frisch gebügelt.

Die wahre große Gemütlichkeit jedoch zog immer erst ein, wenn die Hausbewohner und die Leute der Moorhöfe unter sich geblieben waren.

Auf Befehl der Wirtin stießen wir dann mit den Wandbecken vor, eins, zwei, drei, die ganze Front mit einem einzigen Rude, um uns der Wärme erfreuen zu können, die man hier zu allen Jahreszeiten brauchen kann und welche selbst hellodernde Kaminfeuer nur aus nächster Nähe spenden; sie aber setzte sich zu uns in den Großvaterstuhl, der zur ländlichen Feuerstelle gehört so gut wie der oft riesige Schürhaken und der Rechen unterm Dachbalken, von dem herab stets ein ganzer Regenbogen vielfarbiger Waschkleider niederhing.

Die Gäste tranken Bier und spielten Domino, wenn sie nicht Whist übten für das nächste Preisspiel. Sie waren insgesamt Onkeln, Großonkeln oder Schwäger und Vettern der Wirtsfamilie, und ihre Teilnahme an allem, was das Haus betraf, äußerte sich in dem Zuspruch, womit sie das allabendliche Bad der ungebärdigen Jüngsten begleiteten: „Hallo, Harry, ein großer Bengel wie du wird sich doch nicht vor dem Wasser fürchten!” — „Werin ich mich von deiner Mutter waschen lassen könnte, Freddie, ich würde nicht weinen…” — „Denk an die Seeleute im Sturm, Ronald, die dürfen auch nicht schreien, wenn sie ins Meer fallen, das noch dazu gar nicht vorgewärmt ist..

Ich horchte auf die stille gleichmäßige Unterhaltung, die mich umplätscherte.

Einmal erfuhr ich dabei, daß in einem der beiden kleinen Häuschen jenseits der Straße, dessen Verwahrlosung mir aufgefallen war, Saly Allison wohnte, eine unverheiratete Person, die niemand in unserer Küche leiden konnte mit Ausnahme eines krankhaft dicken, kurzatmigen Greises, der nicht mitspielte, sondern ausschließlich in den Genuß seines Biers vertieft war.

„Andrew”, sagte ihm die Wirtin auf ihre eindringliche Art, „du irrst, wenn du glaubst, Saly etwas Gutes zu tun, indem du jederzeit für sie zu haben bist, sooft sie an die Wand zwischen eueren beiden Küchen klopft.”

Er antwortete brummig: Er kenne Saly seit ihrer Geburt, ihre Eltern wären ihm stets gute Nachbarn gewesen, weshalb er sich auch gewissermaßen verpflichtet fühle, ihr jetzt, wo sie fast unbeweglich geworden sei, beizustehen.

David Richardson bemerkte etwas Tiefsinniges über wechselseitige Hilfsbereitschaft und die Tatsache, daß Saly zeitlebens ungefällig und selbstsüchtig gewesen sei.

Dick Nicholls hatte einmal vor Jahr und Tag, als von einer Krankheit noch keine Rede gewesen war, Saly durch ihre offene Tür beobachtet, wie sie vom Lehnstuhl aus mit einem langen Stock nach Kochtöpfen und Schüsseln geangelt hatte, aus lauter Faulheit. Vielleicht sei sie auch jetzt bloß faul. Wenn dem aber nicht so wäre, gehöre sie ins Spital.

„Spital — Spital — Spital”, murmelte es rings im Kreis voll Überzeugung.

„Wenn sie nicht so geizig wäre, könnte sie sich sogar den Zahlstock leisten”, sagte die Wirtin und fortfahrend in einem vor Nachdruck fast feierlichen Ton: „Du hast ein Herzleiden, Andrew, wie dein Vater und deine verstorbenen Geschwister. Dein Leben hängt sozusagen an einem Faden. Nimm mir’s nicht übel, aber was wahr ist, ist wahr und muß gesagt sein. Wer wird sich um Saly kümmern, wenn du einmal nicht mehr bist?”

„Was nach meinem Tod geschehen wird, ist mir gleich”, antwortete Andrew und tat einen tiefen Zug, was jeder kundige Arzt entsetzt wahrgenommen hätte, „Saly will nicht weg von zu Hause und geht nicht weg von zu Hause. Außerdem”, fügte er nach einer Weile besinnlich hinzu, „habe nicht ich allein eine Umsteigkarte für die Ewigkeit. Im letzten Winter warst auch du mit deiner Lungenentzündung übel genug dran, Polly. Sowas kommt immer wieder und zu dick bist du auch. Möglicherweise überlebe ich euch insgesamt, drum zerbrecht euch vorläufig eure Köpfe nicht über Saly!”

Die Stimme der Wirtin durchdrang kreischend vor Heiterkeit das vielfältige Hallo, das folgte: „Wollen wir wetten, Andrew, daß du zuerst abziehst. Bald wirst du dahin sein, mein Lieber, denn gegen deinen Umfang ist der meinige gar nichts. Du zerspringst demnächst wie ein Luftballon.” Sie lachte, wie sonst nur Kinder lachen, so herzlich und so rückhaltslos entzückt.

Sie behielt recht, wenn auch nur teilweise.

Der alt Andreiw narb wirklich bald, aber keineswegs an greisenhafter Fettleibigkeit, sondern im Gegenteil an jugendlichem Übermut. Er begleitete seinen bei einer Motortruppe dienenden Neffen auf einer improvisierten Vergnügungsfahrt und bestärkte den jungen Mann in dessen Sucht, es den Rennfahrern gleichzutun, so daß schließlich Rad und Insassen an einer Mauer zerschellten.

Am Tag nach dem Unglücksfall trug mir der Morgenwind durchs Fenster meines Zimmers zugleich mit frühjahrsmäßigen Düften seltsame Laute zu, halb Stöhnen, halb Heulen, unheimlich wie das Klagen vom Herbststurm im Rauchfang.

„Saly Allison macht sich bemerkbar”, sagte die Wirtin, als ich zum Frühstück hinunter kam. „Ich möchte wohl wissen, wer ihre Türe aufdemacht hat, so daß sie sich in dieser Weise melden kann. Denn gestern abend haben wir hier alle beschlossen — schade, daß Sie gerade nicht dabei waren, Sie hätten sich über unsere Einmütigkeit gewundert —, daß niemand für sie eine Hand rühren wjrd, damit diese Affenschande aufhört, diese Schande, daß ein kranker Mensch sich und der Welt zum Verdruß einsam und ohne berufene Hilfe dahinsiecht. Ich habe mit dem Doktor telephoniert, er ist ganz unserer Meinung. Von Zeit zu Zeit werde ich Saly fragen, ob sie endlich Verstand angenommen hat. Bis dahin werden wir sie liegen lassen, wie sie liegt, um ihren Eigensinn zu brechen.”

Auf dem Tisch waren zwei Gedecke, eins für mich und eins für den Briefträger, den die Wirtin jeden Morgen einlud. Viele kleine Teller, viele kleine Bestecke, denn das übliche englische Service entspricht den allgemeinen englischen Eßmanieren.

Ein Kohlenwagen rasselte draußen. Mächtig und schwarz verdunkelten der Fahrer und sein Adjutant die Küche.

Saly Allison hatte sie im Vorüberfahren angerufen, und nach einer kurzen Begegnung mit ihr glichen sie Leuten, die ein Gespenst gesehen haben.

Sie stärkten sich; dann sprach der eine: „Die Polster hätten wir ihr glattziehen sollen. Ich wäre dazu nicht imstande gewesen, Gott weiß warum, ich kann sowas nicht.” Der andere ergänzte: „Man ist auch nicht sauber genug für das weiße Bettzeug.” Beide schlossen: „Bitte, gehen Sie hinüber!” und, „Man sollte sie ihs Spital bringen.”

Ablehnung in jedem Zug murmelte die Wirtin: „Allright.”

(Fortsetzung folgt)

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